Von Marny Meyer
11.05.2017 / FORUM - das Wochenmagazin
Die Macher eines ungewöhnlichen Treffens beim deutsch-französischen Festival der Bühnenkunst sind das Kollektiv "Rimini Protokoll", die schon mehrfach beim Festival Perspectives mit anderen Stücken vertreten waren. Seine Mitglieder Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel hinterfragen das Theater der konventionellen Prägung, experimentieren mit verschiedenen Formen der Bühnenkunst und erschaffen eine ganz neue Art des Dokumentar-Theaters. Europa sei eine sich ständig wandelnde Idee zu theoretisch, als dass sie vom Einzelnen als Lebenswirklichkeit erfahren werden könnte.
Das Kollektiv "Rimini Protokoll" kon-trastiert diese abstrakte europäische Idee mit der Individualität einer Privatwohnung. In einem Wohnzimmer werden 15 Menschen Teil einer Inszenierung. Ihre persönlichen Geschichten und die Mechanismen des politischen Europa sollen miteinander verzahnt werden. Wie viel Europa steckt in einem Menschen?
"Hausbesuch Europa ist eine mobile Einheit, die ohne große Bühne und Equipment auskommt", macht die Mit-Initiatorin Helgard Haug deutlich. Die Teilnehmer sitzen an einem Tisch, mitten im Wohnzimmer einer Privatwohnung eines Gastgebers. Alle Besucher sind sich, im besten Spielfall, noch nicht bekannt. Auf dem Tisch wird eine Europakarte ausgelegt, auf der Markierungen gemacht werden können. Die Spielleiterin Catherine Umbdenstock erklärt kurz den Ablauf, versucht sich aber im laufenden Geschehen weiter zurückzuziehen. Zudem steht ein kleiner technischer Apparat in der Mitte. Dieser wirft eine Art Kassenbon mit Fragen oder Aufforderungen zu kleinen Aktionen in die Runde. Es gilt, im vertraulichen Rahmen Fragen zu beantworten. Zum Beispiel: Wer am Tisch hat eine Arbeit, von der er leben kann? Oder wer fühlt sich mehr als Europäer, denn als Bürger seines Landes? Aber auch wer Angst vor der Zukunft hat? So entdecken der Gastgeber und seine 14 Mitspieler nach und nach, wie viel Europa in jedem Einzelnen steckt. Es geht weniger um politisches oder geschichtliches Faktenwissen, sondern vielmehr um private Anekdoten und Kleinigkeiten des Lebens.
Der Vergleich zum großen politischen Europa schwingt unterschwellig mit. Das Private wird so ein wenig politisch, das Politische gewinnt eine persönliche Komponente. "Es geht darum, die Gruppenteilnehmer und vor allem sich selbst kennenzulernen. Gesellschaftliche Themen stehen zur Diskussion", erklärt Helgard Haug den Gedanken und Ablauf, "parallel wird ein Kuchen gebacken, der duftend im Ofen als Anreiz und Belohnung dient. Am Ende wartet auf den Gewinner das größte Stück des Kuchens. Es gibt also einen Gewinngedanken. Die Art und Weise, wie die Teilnehmer reagieren, lässt sich auf die EU übertragen. Wie wird versucht, eine gemeinsame Form zu finden? Solidarisch oder egoistisch?" Fragen etwa "Hast du deine Nationalität schon einmal bewusst verleugnet?" lassen einen die eigene Position in diesem Europa reflektieren. Im Kleinen werden demokratische Aspekte der großen EU nachgespielt, wenn es in der letzten Spielrunde darum geht, den europäischen Kuchen aufzuteilen.
Alle Antworten werden anonym registriert und in ein eigens dafür entwickeltes Programm gespeist. Ein Algorithmus bestimmt für später die Zusammenstellung der Teams. Die prozentualen Ergebnisse sammelt das Team von Rimini Protokoll akribisch genau.
Aufführungen in Wohnungen
Auf der Homepage www.homevisiteurope.org können die prozentualen Ergebnisse von allen bisherigen Vorstellungen eingesehen werden. Die Abstimmungsergebnisse sowie Gruppenbilder aller Hausbesuche werden gesammelt und in einem Archiv online vergleichbar gemacht. Haug erklärt den Hintergrund hierfür: "Die Website ist unsere Bühne, eine Möglichkeit als globale Antwort. Wir sind keine Statistiker oder Soziologen, nur Theaterleute. Die Daten sind für uns eine Art Momentaufnahme, da das Theater selbst ja flüchtig ist. Es geht uns darum, die Situationen und Gedanken für den Moment festzuhalten und vielleicht zu vergleichen. Wie ist es in Berlin, wie in Lissabon oder Saarbrücken?"
Seit 2002 besteht Rimini Protokoll. Mit Stücken wie "Qualitätskontrolle" oder "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" waren sie bereits Teilnehmer des Festival Perspectives. "Hausbesuch Europa" hatte im Mai 2015 in Berlin Premiere. Seitdem erstürmt es Städte, Länder und Kontinente. Mit anderen Parametern des Originals kann das Spiel immer wieder inhaltlich neu fokussiert werden. "Im Saarland können wir so beispielsweise auf die aktuelle Situation in Frankreich eingehen", ergänzt Haug, "das Stück ist so konzipiert, dass die Gäste durch ihr Mitspielen viele Variablen einbringen. Die Idee kam uns auf die Frage gestellt, wie wir ein Theaterstück für Europa schreiben würden. Unser Interesse gilt der Kleinstmöglichen Einheit Europas: dem einzelnen Menschen. Deshalb gehen wir in wechselnde Wohnzimmer damit."
Susanne Garreis, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Aalen, war bereits eine solche Gastgeberin. Die Mutter von vier Kindern wohnt in einer 150 Quadratmeter großen Doppelhaushälfte und hat Fremden für das Stück "Hausbesuch Europa" ihre Türen geöffnet. "In Aalen kennt sich eh fast jeder, und je besser man die Teilnehmer kennt, desto eher lassen sich Spieltaktiken entwickeln. Deshalb fand ich es interessanter, wenn die Teilnehmer fremd und möglichst vielfältig waren. Je unterschiedlicher, desto besser", berichtet Garreis ihre Erfahrungen. "Die Atmosphäre an dem Abend war gespannt und neugierig, die Gäste waren offen für alles. Schade war eigentlich nur, dass die Zeit sehr knapp bemessen war, um richtig miteinander ins Gespräch zu kommen."
Das Spiel ist auf zwei Stunden begrenzt. "Vertiefende Bekanntschaften müssen hinterher geknüpft werden. Das Stück wird jenseits einer großen Öffentlichkeit aufgeführt. Erfahrungsgemäß ist das Eis schnell gebrochen, die anfängliche Zurückhaltung der Teilnehmer vergeht und sie können offen erzählen", meint Ideengeberin Haug. "Im Fokus geht es darum, wo man selbst steht? Wie ist die eigene Haltung?" Jede Aufführung findet in einer anderen Wohnung statt, und so reist diese Aufführung durch Hunderte von Wohnungen in ganz Europa und baut ein Netzwerk auf, das nicht aus einem Zentrum heraus verordnet wurde, sondern das sich von Haustür zu Haustür über den Kontinent erstreckt. Da das Spiel gut adaptierbar sei, auch auf andere Kulturen, gab es bereits Ausführungen in den USA und Ägypten. Weitere Spielentwicklungen sind für Australien geplant.
Bei "Hausbesuch Europa" wird ein Wohnzimmer zur Bühne, die Besucher werden selbst zu den Akteuren.