Von René Zipperlen
02.06.2006 / Der Tagesspiegel
Selbst der scheidende Basler Intendant – und Chef der Berliner Opernstiftung – Michael Schindhelm sieht an diesem kalten Basler Frühlingsabend aus, als begebe er sich auf Klassenfahrt, wie er hier mit 47 weiteren Zuschauern auf die Abfahrt wartet: Gleich startet eine profane Odyssee mit zwei bulgarischen Lastwagenfahrern vom östlichen Rand Europas nach Basel durch eine wahnsinnig gewordene Warenwelt der Nachwendezeit.
Vier Tage, 2000 Kilometer, 650 Liter Diesel. Eingekocht auf knapp zwei Stunden Theater. Und der Zuschauer mittendrin: in einem umgebauten Lkw auf drei engen Tribünen mit Blick durch die verglaste Seitenwand. Vorbei an einer Landschaft aus Lagerhallen, Containerterminals, Staus, Autobahnrasthöfen, Nachtbrachen. Sonnenuntergänge und Soundtrack inbegriffen.
Ausgedacht hat sich die Fahrt der Regisseur und Autor Stefan Kaegi, Teil des Kollektivs Rimini Protokoll, dem wir eine Renaissance des dokumentarischen Theaters auf einer höheren Reflexions- und Erlebnisebene verdanken – „Wallenstein“ von Rimini Protokoll war auf dem Berliner Theatertreffen der Hit. Relevanz gewinnt Theater für Kaegi offenbar immer dann, wenn es das Theatergehäuse und seine Funktionsmuster verlässt.
So kraftvoll wie diesmal hat er die Grenzen der Bühne aber wohl noch nie in Richtung Wirklichkeit verlassen. Angetrieben von 328 PS, startet der Lastwagen in ein Spiel mit der Realität und ihrer Konstruktion. Dafür setzt Kaegi nicht auf Schauspieler, sondern auf Fachleute. In „Cargo“ sind dies die bulgarischen Wagenlenker Svetoslav und Ventzislav, dazu kommen in Einspielfilmchen auf einer Leinwand und draußen vor dem Lkw ein Zöllner, ein Containerterminalleiter, die Chefin einer Spedition, ein Lagerarbeiter.
Man erfährt von den Untiefen des Warenverkehrs: wie viele Zigaretten die Fahrt über die bulgarische Grenze kostet (eine Stange), was eine serbische Polizeistreife für freie Fahrt verlangt (drei Euro, fünfmal im Schnitt), wie lang die Wartezeiten sind (slowenische Grenze, acht Stunden, keine Toilette), was ein getauschter „Playboy“ im Iran wert ist (eine Tankfüllung), wie der Zoll nach geschmuggelter Ware und Menschen sucht und dass er am größten Autobahnzoll Europas in Basel bei 5000 Lastwagen am Tag nur einen lächerlichen Prozentsatz kontrollieren kann.
Der Gewinn gegenüber einer gut gemachten Trucker-Doku eines ordentlichen Fernsehsenders liegt in der dramaturgischen Überlegenheit und dem Live-Erlebnis, zu dem die Lakonie der Fahrer, deren spärliche Dialoge an Jim Jarmusch erinnern, viel beiträgt. Die Grenze zwischen Realitätsdokumentation und Theaterfiktion verwischt. Die vorbeiziehenden Städtebilder der Einspielfilme auf der heruntergezogenen Leinwand sind bis in die Kurven mit der tatsächlichen Fahrt durch Basel synchronisiert.
Besonders eindrucksvoll: Belgrad. „Ich habe den Fernsehturm gesehen. Ganz schwarz.“ Nach einem Angriff. Der Theaterlaster schwenkt auf das aus Beton gegossene Niemandsland eines verlassenen Parkplatzes. Mittendrin, unerreicht und unwirklich, singt eine Sängerin, deren Auftritte die prosaische Fahrt als poetisches Bild durchziehen, ein Lied von den Schmerzen des geschundenen Balkans. Ein starker Moment, doch die Fahrt geht weiter. Der motorisierte Odysseus kommt mit der Welt jenseits der Straße kaum in Kontakt.
Der Erkenntnisgewinn? Nun: Trucker verbringen ihr Leben im Wagen, tragen ihre Familie auf Fotografien mit sich, fahren zu viel, warten zu lange, sind unterbezahlt. Und nicht jeder nackte Satz gewinnt durch die Leerstelle an Tiefe. „Jugoslawien ist jetzt voller Grenzen.“ Weiter geht das nicht. Im Fahrzeug flirrt ein Subtext über einen Leinwandstreifen: der Ausverkauf des Ostens, erzählt anhand des Aufstiegs von Willi Betz, Fuhrunternehmer aus Reutlingen. Mit fünf Lastern gestartet, kaufte sich Betz in Osteuropa ein, schmierte – legal und steuerlich absetzbar – und baute schließlich seine Villa inmitten des eigenen Fuhrparks. Osteuropa: degradiert zu einer riesigen Billigproduktionsanlage des Westens. So lange das Lohngefälle so groß ist, sagt ein Terminalleiter, und der Transport so billig, wird das weiter zunehmen.
So lange eben, wie es Leute gibt wie Vento und Svetoslav, die sich von ihren 500 Euro Monatslohn in all den Supermärkten und Blumengeschäften, die sie passieren, nichts kaufen können. Da erübrigt sich ein Bankkonto: „Auf der Straße ist es praktischer, Geld in der Hosentasche zu haben.“ Doch die Banken, das hat Svetoslav beobachtet, machen sich bereit: In Sofia schießen sie wie Pilze aus dem Boden. Und die Preise fürs Duschen haben sich seit 2004 verdoppelt. Am Ende der Reise gibt es Wodka aus Plastikbechern. Am 26. Juni startet die Berliner „Cargo“-Fassung vom Hebbel am Ufer.