Von Florian Malzacher
05.04.2005 / Frankfurter Rundschau
So, nun muss ich mich verabschieden, sagt sie. Und schon ist sie weg. Man ärgert sich vielleicht noch, dass man so lange brauchte, um in das Gespräch richtig einzusteigen. Weiß in diesem Augenblick all das, was man hätte fragen wollen. Ist vielleicht etwas traurig, dass man mit ihr vermutlich nie mehr sprechen wird. Dass man jemanden, den man gerade kennen gelernt hat... aber hat man tatsächlich jemanden kennen gelernt?
Das Prinzip von Call Cutta, der jüngsten Produktion des Regietrios Rimini Protokoll, die erst in Kalkutta und nun am Berliner Theater Hebbel am Ufer zur Aufführung kam, ist eigentlich simpel: Man bekommt ein Mobiltelefon in die Hand gedrückt und schon erklärt einem eine freundliche Stimme, wo's langgeht. Und während man alleine durch Kreuzberger Hinterhöfe stapft, entsteht aus Geschichten ein Gespräch, eine Begegnung. Doch so wie das Call Centre, von dem aus eine freundliche Stimme dir eine Kreditkarte anzudrehen versucht, längst schon nicht mehr im eigenen Land liegt, so sitzen die Gesprächspartner in "Call Cutta" ebenfalls nicht in Deutschland, sondern in Kalkutta.
Dort boomt der Call-Centre-Markt: In glänzenden Bürotürmen, die wie Ufos in der wuseligen, heruntergekommenen, immer müffelnden Stadt stehen, gaukeln Telefonisten ihren Kunden vor, in ihrer Nähe zu sein. Sogar falsche Vornamen werden verwendet. Und so heißt auch Sarah nicht Sarah, sondern Shuktara, wie sie später verrät. Aber da kennen wir uns ja auch schon besser. Was meinst du, fragt sie, kann man sich in eine Stimme verlieben?
Alles bleibt in der Schwebe; der leicht flirtende Unterton mag eine Projektion sein. Obwohl: Sie würde nicht lügen am Telefon, behauptet Shuktara fest, nachdem man selbst gerade zugegeben hat, dass Schwindeln schon mal vorkäme. Aber ist ein falscher Vorname keine Lüge? Ja schon. Aber das ist schließlich Geschäft. Und das jetzt?
Noch nie hat Rimini Protokoll, die seit Jahren "echte" Menschen auf die Bühne stellen und sie als sie selbst inszenieren, die Fäden so sehr aus der Hand gegeben, wie bei dieser Arbeit mit indischen Call-Center-Mitarbeitern. Zwar gibt es auch diesmal ein Skript, eine Inszenierung, eine Route. Doch jeder Performer in Kalkutta erzählt zwischendurch immer irgendwie auch seine eigene Geschichte - und jeder Teilnehmer kann einen eigenen Dreh in die Sache bringen.
Unmittelbarkeit des Gesprächs
Und tatsächlich ist diesmal die Wirklichkeit stärker als alle Geschichten. Das faszinierende an Call Cutta ist nicht die zugegeben absonderliche Story vom indischen Freiheitskämpfer Netaji, der von 1941 bis 1943 in Berlin war, um mit Tausenden seiner Landsleute in der "Legion Freies Indien" gemeinsam mit den Deutschen zu kämpfen. Das Faszinierende sind nicht die heruntergekommenen Hinterhöfe in Kreuzberg aus einer Zeit, da man glaubte, Wohnblöcke seien die Verwirklichung einer urbanen Utopie.
Das Faszinierende ist die Unmittelbarkeit des Gesprächs. Der leichte und doch irgendwie sachliche Flirtton Shuktaras. Die Vorstellung, dass in einer anderen Ecke der Welt eine junge Frau sitzt, die noch nie in Deutschland war, und die dich dennoch durch Berlin führt. Eine Begegnung im Zeichen der Service-Gesellschaft.
Wer weiß, ob Call Cutta im eigentlichen Sinne noch Theater ist. Zuschauer jedenfalls gibt es keine, nur Beteiligte. Und so ist Call Cutta typisch für jenes Theater, genauer jene drei Theater, die Matthias Lilienthal vor anderthalb Jahren zum Hebbel-am-Ufer (kurz und schlagkräftig: HAU) zusammenfasste: Denn das Gefühl, dazu gehören zu müssen, bringt auch Leute hierher, die im Theater sonst eher nicht mehr anzutreffen sind, schließlich hat Schauspiel derzeit nicht gerade den Ruf einer besonders hippen Kunstform.
Innerhalb kürzester Zeit ist das HAU zum deutschen Zentrum der internationalen, freien Performance-Szene geworden - auch weil es an den anderen Häusern dieses Segments derzeit vor allem Abbau, Umorientierung oder nur Orientierungslosigkeit gibt.
Für Berlin bedeutet das eine Konkurrenz, die belebend sein kann - die Sophiensäle haben den Fehdehandschuh mit Selbstbewusstsein aufgenommen. Der Prater der Volksbühne ist - wie das Mutterhaus - dabei etwas ins Hintertreffen geraten. Lilienthal fischt hemmungslos in fremden Becken. Genauer: Die Vorstellung, es gäbe fremde Becken, ist ihm fremd. Sein hemdsärmeliger Stil könnte die betuliche deutsche Szene nachhaltig zu mehr Kampfgeist zwingen.
Shuktara heisst nicht Sarah, aber sie ruft auch nicht an (BILD: HAU)
Komplizen der Aufführung
Auch Gob Squad hatte seine letzte Premiere noch am Prater. Nun präsentieren sie ihre neue Arbeit "King Kong Club" am HAU. Dass auch hier das Publikum zum Komplizen der Aufführung wird, ist einerseits Zufall, andererseits aber auch nicht. Dazugehören gehört dazu. Die deutsch-britische Truppe, die unlängst ihr zehnjähriges Bestehen feierte, setzt aufs Interaktive. Früher waren ihre Arbeiten anrührende, entrückte Popwelt-Tableaus aus Kitsch und Einsamkeit - inszwischen sind es vor allem oft komplexe Versuchsanordnungen im Widerspruch zwischen dem Live-Bild und seiner medialen Vermittlung. Geblieben ist die Liebe zu billigen Faschingskostümen und zur Party. Während Teile des Publikums noch ihre Alltagsklamotten gegen Ganzkörper-Affenkostüme eintauschen, sind die Anderen schon auf der Bühne beim Drehen: In völliger Anonymität (wie bei der Maskengesellschaft in Kubricks "Eyes Wide Shut") kommt man zusammen, doch der wilde Sex, das wilde Tanzen, das Wilde überhaupt wird hier nur augenblicksweise- und ausschnittsweise simuliert. Gob Squad dirigiert die Publikumsaffen von Szene zu Szene, links wird gestorben, rechts umworben, und in der Mitte performt ein DJ - überall Kameras und Regieanweisungen.
Doch wie es so ist beim Dreh: Man steht viel rum, wartet auf den nächsten Einsatz, bestenfalls kann man gerade anderen Affen bei ulkigen Verrenkungen zuschauen. Ein bisschen Kindergeburtstag, ein bisschen Club Mediterranee, ein bisschen urbanes Entertainment für Thirtysomethings, die ach so jung geblieben sind.
Später gibt's dann den live zusammengemixten und synchronisierten Film, der - mit komplett belanglosem Plot - erwartungsgemäß stellenweise ganz komisch, häufiger aber ziemlich berechenbar ist. Am Ende ist auch das egal, für dieses Mal war sich Gob Squad als Animateur selbst genug. In Indien ist es schon spät in der Nacht. Shuktara hat meine Handynummer notiert. Aber sie ruft nicht an.
"Call Cutta" noch bis 26. Juni. Täglich außer Montag und Dienstag. "King Kong Club" am 5. und 6. April. www.hau-berlin.de