Von Georg Diez
05.06.2005 / Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Wenn Theaterleute über Theater reden, dann sagen sie gern mal Sachen wie "Auf der Bühne interessiert mich die Behauptung". So wie gerade Matthias Hartmann, der neue Intendant des Züricher Schauspielhauses. Er markiert damit das traditionelle Theaterverständnis. Ein Stuhl, heißt das, ist hier nie ein Stuhl, ein Stuhl ist mindestens England.
Immanuel Schipper wird in diesem Sommer mit Hartmann nach Zürich gehen. Er hat ein blaues T-Shirt an, auf dem "Italia" steht, er sitzt barfuß vor dem Probegebäude in Mannheim-Neckarau. Er ist der Dramaturg von "Wallenstein" - einer Aufführung des Regiekollektivs Rimini-Protokoll, die das mit der Behauptung genau umdreht. Ein Stuhl ist hier ein Stuhl, und Wallenstein ein CDU-Politiker, der sich in den Strängen der Macht ganz verheddert.
Das ist das Rimini-Prinzip: Echte Menschen statt Schauspieler, das Drama des Lebens statt kühler Klassiker.
Der Wallenstein heißt Sven-Joachim Otto, er arbeitet als Richter am Sozialgericht und war tatsächlich mal CDU-Politiker. Heute spielt er nichts anderes als sich selbst. Vielleicht hat er Motive für seinen Auftritt, vielleicht ist es für ihn Therapie oder späte Rache oder einfach das Sprungbrett für einen zweiten Anlauf in der Politik. ("Bild" war auch schon da.) So oder so sind all das echte Motive eines wirklichen Menschen.
Und darum geht es an diesem Abend: Jemand wie Sven-Joachim Otto kennzeichnet dabei zugleich das Faszinierende und das Prekäre des Theaters jener drei Regisseure, die diesen "Wallenstein" inszeniert haben und in wechselnden Konstellationen und unter dem rätselhaften Namen Rimini-Protokoll das Theater zur soziologischen Anstalt machen.
Intelligenznachweise
"Echt" und "wirklich" sind dabei Begriffe, die man natürlich ohne Anführungszeichen gar nicht verwenden kann. Und auch im "Wallenstein", den Helgard Haug und Daniel Wetzel diesmal ohne ihren Kollegen Stefan Kaegi für die Schillertage in Mannheim erarbeitet haben, ist das Echte hergestellt, zumindest ausgestellt und damit schon verfremdet. Trotzdem ist es mal wieder verblüffend, zu sehen, wie ganz anders das Theater auch funktionieren kann - eben nicht bloß so, wie es das gerade mal wieder grassierende graumüde Feuilletongeknatsche uns vormachen will, hier die sogenannten Werktreuen, da das sogenannte Regietheater. Rimini-Protokoll sind damit der Intelligenznachweis einer stagnierenden Kulturform.
Wobei auch das mit der Intelligenz wieder sehr ambivalent ist. Denn die Gefahr dabei ist ja, daß die Intelligenz zu stolz, zu trocken, zu moralisch daherkommt. Theater ist erst einmal nicht unbedingt der richtige Ort für einen zu hohen IQ-Faktor. Und so haben alle Produktionen von Rimini-Protokoll auch mit dem Knäckebrothaften ihrer eigenen Methode zu kämpfen.
Bekannt wurden die drei Regisseure, die seit 2002 zusammenarbeiten, als ihnen Wolfgang Thierse verbot, im alten Bundestagsgebäude in Bonn eine Debatte aus Berlin live nachzuspielen, mit echten Bürgern statt behaupteter Volksvertreter. 2004 wurden sie dann mit "Deadline" zum Theatertreffen eingeladen und damit ästhetisch eingemeindet - "Deadline" war eine kluge Theatermeditation über das Sterben, bei der die wirklichen Menschen auf der Bühne dem Theatralischen bereits gefährlich nah kamen.
Aber das genau ist die Methode von Rimini-Protokoll: Sie suchen danach, wie theatralisch, wie inszeniert, wie strukturiert die Welt und das Leben und Erleben des einzelnen sind - und stellen diese Recherche-Ergebnisse dann so halbinszeniert und holprig auf die Bühne, daß es manchmal wirkt wie Schülertheater für Erwachsene. Oder wie eine aufklärerische Butterfahrt.
Natürlich hat dieser Dilettantismus wiederum Methode - es ist ein Dilettantismus der Form und nicht des Inhalts, und gerade aus dieser Distanz des ästhetisch Hölzernen und des konzeptionell Forcierten entsteht der Reiz dieses Theaters. Rimini-Protokoll sind das andere Ende der Einfühlung, in die Rolle, in den Text, das Stück, das Werk, die Geschichte. Sie sind Ausfühlungstheater, mitten in der Welt.
Ausfühlungstheater
Die Menschen, die nun in "Wallenstein" zu sehen sind, sind von einer den Zuschauer beschämenden Alltäglichkeit. Da ist also Dr. Otto, jugendlich das Gesicht, dicklich der Körper, blau das Hemd, bunt die Krawatte; der Mann, der im Wahlkampf die gloriose Idee hatte, mit gut gekühlten Bierfässern zu sieben oder acht Grillfesten zu gehen, um dort Wähler zu überzeugen; der sich mit Kindern und Schäferhunden fotografieren ließ, die nicht seine waren; der etwas viel zu Linkisches hat, als daß man ihm das mit der Politik tatsächlich zutraut; der dann auch als CDU-Kandidat für das Amt des Mannheimer Oberbürgermeisters strauchelte. Und die Intrige, die zu seinem Sturz führte, ist das Schicksal, das einer wie Wallenstein heute erleidet.
Neben Dr. Otto steht Ralf Kirsten, ein Mann mittleren Alters in einem Anzug von mittlerer Farbe - der 1988 als Polizist in der DDR die Wahl hatte zwischen einer Frau, die als politisch unzuverlässig galt, und seiner Karriere in einem Land, das ein Jahr später Geschichte war. Das sind die Verstrickungen von Macht und Liebe, von Lüge und Entscheidung, die Rimini-Protokoll Schillers Stück entnehmen, Motive, die sie im Heute suchen und in der Biographie ihrer Protagonisten finden. Im Grunde entsteht das Stück also woanders als in diesem stickigen Proberaum in der Nähe der Eisenbahngleise, im Niemandsland von Mannheim; es entsteht im Leben und in den Köpfen von diesen Menschen auf der Bühne, und es hat schon vor vielen Jahren begonnen.
Bei Robert Helfert zum Beispiel, einem stämmigen Mann mit breitem Gesicht, der als Luftwaffenhelfer Mannheim im Zweiten Weltkrieg verteidigt hat und heute auf der Bühne alte Kameradenlieder singt; oder bei Hagen Reich, der mal Offizier bei der Bundeswehr werden wollte, bis bei ihm die Menschlichkeit über den Gehorsam siegte; oder beim Vietnam-Veteranen Dave Blalock, der erzählt, wie damals im Dschungel der Widerstand gegen einen grausamen Vorgesetzten ganz unbürokratisch geregelt wurde, mit einer Handgranate, die man dem Mann in die Hütte warf; oder bei Darnell Summers, der auch in Vietnam war und graue Dreadlocks hat und um die Freilassung eines für kurze Zeit in Mannheim inhaftierten Deserteurs des Irak-Kriegs kämpft. All das sind Motive soldatischer Realität, die den Hintergrund abgeben für eine heutige "Wallenstein"-Lektüre.
In Schillers Auftrag
In dem kargen Betonraum liegen stapelweise gelbe Reclam-Hefte herum. "Wallenstein" ist das erste richtige Stück, das Rimini-Protokoll inszenieren. Ihr Theater entsteht, an diesem Abend mehr noch als sonst, als Kommentar zu ihrer Lektüre, zu Schiller in diesem Fall. Dabei machen sie das Stück auf eine ganz eigene Art kenntlich. Sie sind rational und aufklärerisch in ihrer Herangehensweise und somit streng traditionell. Sie glauben auf ihre Art an Schillers Anstalt, an einen Auftrag, der kein rein ästhetischer ist. Darum spielen sie nicht wirklich. Der Auftrag ist durchaus ein moralischer. Darum suchen sie Strukturen und Verbindungen in der Wirklichkeit.
Natürlich entdecken sie bei ihren Recherchen auch das Abseitige in der Welt, das das ganz Normale ist. So wie die Astrologin Esther Potter, die erst mal "The End" von den "Doors" singt, bevor sie, Schillers Motiv aufnehmend, das Schicksal von Dr. Otto und Feldherr Wallenstein aus der Konstellation der Sterne erklärt; so wie Wolfgang Brendel, der als ehemaliger Oberkellner im Weimarer Hotel "Elephant" die Mächtigen aus der Nähe gesehen hat; so wie die Partnervermittlerin Rita Mischereit, die aussieht wie aus einem "Derrick" der siebziger Jahre mit ihren Goldpantoffeln und ihren grellroten Haaren und die dabei die Würde wie die Lächerlichkeit der tragischen Liebe verkörpert, wie sie Schiller uns beschrieben hat.
Und dann ist da noch der Mann mit der Trillerpfeife, den kurzen Hosen und dem roten Schiedsrichterdreß, Friedemann Gaßner, Elektromeister und Schiller-Fan. Er erzählt, wie er Schillers Verse auswendig lernt. Er gibt dem Abend den Bogen. Als er im wirklichen Leben die Liebe verlor, da fand er Schiller. Er flüchtete in die Behauptung. Und alles war gut.
Die 13. Internationalen Schillertage in Mannheim mit Gastspielen von Hamburg bis Maputo gehen noch bis 12. Juni.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.06.2005, Nr. 22 / Seite 28