Von Doris Meierhenrich
04.02.2008 / Berliner Zeitung
So herrlich kann Theater sein. Als am Sonnabend um 0.30 Uhr die ersten Zuschauer aus dem brodelnden Hebbel Theater auf die Straße treten, will kaum jemand diesen Ort verlassen, der soeben noch aus mehr als 800
Einzelkämpfern einen singenden, swingenden Klangkörper geschmolzen hat. Man drückte sich zurück an das Gemäuer, als wäre es ein wahrheitsliebender Mitmensch, der eben noch den Beatlesong "to make it better" mitgesummt hat. Und kaum mehr war es vorstellbar, dass das Leben hier draußen so viel schwerer funktionieren sollte, als drinnen besungen.
Sollte es auch nicht. Denn wenn Matthias von Hartz, Regisseur, Ökonom, Konzeptkünstler, Protestforscher und Globalisierungskritiker, eine Performance initiiert wie jenes "Orchesterkaraoke", mit dem das Hebbel-Theater seinen glamourös-rebellischen Jubiläums-Höhepunkt feierte, dann nicht, um die Theaterinnenwelt gegen eine unwirtliche Lebensaußenwelt anziehender zu gestalten, sondern um im Gegenteil neue Durchgänge zwischen beiden einzureißen. Das geschah.
Während das famose Rias-Jugendorchester auf der Bühne den Stones-Klassiker "Ruby Tuesday" in Klang-Tüll einhüllte, tauchten über den Musikern die Textzeilen auf einer Großleinwand auf, deren zu singende Wortfolge ein mitprojizierter Zeigefinger im Takt nachzog. Und genau in diesen Milieu-Kontrasten lag der herrliche Trick des Abends: Zwischen dem professionellen Pathos der Musik, der pädagogischen Textdemo und den unberechenbaren Sangesdarstellungen aus dem Publikum stießen die verschiedensten Absichten, Träume und Kunstauffassungen gegeneinander und brachten sich erst dadurch ans Licht. Den großen Gefühlen, die das Orchester aufbauschte, stand ebenso groß der losgelöste Text gegenüber, der plötzlich ungeahnte Bedeutung erhielt: "Not sure I understand, this role, that me givin" hieß es bei Robbie Williams und als schließlich ein Zuschauer Peter Schillings "Völlig losgelöst von der Erde" schmetterte, hielt es das Off-Theater-Publikum nicht mehr auf den Plätzen.
100 Berliner als Prozenttorte
Zugleich brachte dieses anarchisch loriothafte Agitprop-Theater die Camouflage des gegenwärtigen Hebbel Theaters ganz ausgezeichnet auf den Punkt. Denn ein ungeheuer wirkungsreiches Experimentierfeld hat sich in den letzten Jahren hier etabliert, auf dem Fusionen eingegangen und Grenzen durchlässig werden, Kunst im Leben und Leben in der Kunst gesucht wird. Dass es unter den offiziellen Rednern niemanden gab, der dazu oder zum Theater allgemein etwas hätte sagen können, war enttäuschend. Klaus Wowereit schnurrte routinierte Glückwünsche ab und nur Nele Hertling, die große Dame des Hebbel Theater, erinnerte wehmütig an einige Geschichtsdaten.
Die Performances sprachen für sich. Und wäre Matthias von Hartz nicht gewesen, vielleicht wäre über Rimini
Protokoll mehr gesagt worden, das dem Hebbel Theater gleich "100% Berlin" schenken wollte, doch schon
komplexere Abende fabriziert hat. Den Streit zwischen Präsenz- und Repräsentationstheater nahmen sie diesmal ganz wörtlich und holten nach streng statistischem Proporz 100 Berliner auf die Bühne. Wohnort, Alter Geschlecht, Familienstand, Herkunft waren die Kriterien, die durch Bekanntenwerbung und Zeitungsannoncen ihre Vertreter fanden. Und so standen die Hundert im Drehbühnenkreis und wurden im Hintergrund als lebendiger Inhalt einer Prozenttorte projiziert. Doch die Riminis sind Alltagsforscher, und so unterwanderten sie ihre statistische Strenge bald mit allerlei persönlichen Fragen: "Wer ist politisch aktiv?" "Wer hat Schulden?" "Wer findet, es geht niemanden
etwas an, wie er lebt?" und die Hundert hüpften unter "Ich" und "Ich Nicht"-Schildern hin und her, wie Kaninchen.
Dass dabei eher Willkür herrschte als Statistik, wurde sehr bald klar und hier nun war es eine Erlösung, dass sich ein Ganzes zerlegte in hundert Teile.