Von Christiane Hoffmans
03.11.2006 / Die Welt (online)
Karl Marx’ "Das Kapital, Band 1" auf die Bühne zu bringen ist eigentlich unmöglich. Doch Daniel Wetzel und Helgard Haug sind Spezialisten für schwierige Themen. Auch "Das Kapital" haben sie geknackt. Gestern hatte das Stück im Düsseldorfer Schauspielhaus Premiere.
Das Duo Wetzel/Haug gehört zur Autorengruppe Rimini-Protokoll, die sie vor vier Jahren mit Stefan Kaegi und Bernd Ernst gegründet haben. Durch ihre neuen Theaterformen machte sich Rimini-Protokoll schnell einen Namen. Aus Wirklichkeit macht die Gruppe Kunst, und sie schmuggelt Kunst in die Wirklichkeit. So etwa, wenn die Autoren ein Stück entwickeln, in dem sieben Leidtragende des Konkurses der Fluglinie Sabena über ihren ehemaligen Arbeitgeber reden.
WELT.de traf Haug/Wetzel an Allerheiligen, um über ihr neues Stück zu sprechen.
WamS: Heute ist ein hoher Feiertag, und Sie arbeiten. Was sagt die Gewerkschaft dazu?
Helgard Haug: Das ist die Frage, ob man andere braucht, die einen vor der Selbstausbeutung schützen. In solchen Arbeitsprozessen kann man sich nicht mehr an Spielregeln halten, die in anderen Bereichen hart und gut erkämpfte Rechte geworden sind.
WamS: Karl Marx hätte das vermutlich nicht gefallen.
Haug: Gefallen hätte ihm sicher, dass sich hier ein paar Menschen ein inhaltliches Ziel gesetzt haben und nun im knappen Rennen gegen die Zeit alles geben, um dieses Ziel zu erreichen.
Daniel Wetzel: Er war auch nicht schlecht in Sachen Selbstausbeutung – aber so wörtlich nehmen wir den Text sonst selten.
WamS: Aber der Titel Ihres Stückes lautet: "Das Kapital, Band 1". Müssten Sie den Inhalt des Stücks nicht rückwärts pfeifen können?
Wetzel: Nein. Teil unseres Projekts war, solche Leute zu treffen. Zu Beginn wussten wir nicht mal, ob es sie hier gibt.
Haug: Uns geht es auch gar nicht darum, „Das Kapital“ Wort für Wort zu ergründen. Wir wollen vielmehr verschiedene Leseweisen abbilden.
WamS: Was bedeutet das?
Haug: Wir haben mit rund 100 Menschen gesprochen, von denen wir glaubten, sie könnten etwas über ihre Erfahrungen mit Marx’ Werk erzählen. Wir haben Arbeiter und Angestellte, Wissenschaftler und Unternehmer, Priester und Atheisten, Menschen, die unter diktatorischen Regimen und Menschen, die in demokratischen Verhältnissen gelebt haben oder leben, getroffen und mit ihnen über das Projekt geredet. Aus diesen Gesprächen haben wir acht Menschen ausgewählt, von welchen wir glauben, dass sie spannende Individuen und repräsentativ für eine größere Gruppe sind: beispielsweise einen Wissenschaftler, einen Wirtschaftsbetrüger, einen Elektriker aus der alten BRD, eine Übersetzerin aus der ehemaligen DDR...
WamS: Also sind auch Ihre "Experten" auf der Bühne nicht alle "Kapital-fest"? Wetzel: Dieses Buch ist nicht für das Theater geschrieben und unser Stück setzt bei dieser Unvereinbarkeit an. Der Text ist nicht das Stück, sondern das Stück liest den Text anhand der Biografien von Leuten, die mit ihm in Berührung gekommen sind.
Haug: Das Faszinierende ist ja, dass das Buch bis in unsere Gegenwart hineinragt: zum einen durch das, was in es hineingelegt wurde an Hoffnung und zum anderen durch das, was daraus gemacht wurde an konkreter Politik. Vor allem aber ist wichtig, was in "Das Kapital" über ökonomische Gesetzmäßigkeiten und Regeln abgebildet wird.
WamS: Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks denken alle, Marx sei passé. Was hat Sie an Marx interessiert?
Haug: Einige unserer Projekte haben sich mit Themen wie Warenwelt, Globalisierung, Arbeitslosigkeit beschäftigt. In einem unserer letzten Projekte haben zum Beispiel Call-Center-Mitarbeiter aus Indien Berliner Theater-Besucher per Mobiltelefon durch die Stadt geführt. Uns diesen Klotz "Das Kapital, Band 1" vorzuknöpfen, war fast so was wie eine logische Weiterentwicklung unserer Ideen.
WamS: Wie wählen Sie Ihre Themen aus?
Wetzel: Wir arbeiten insofern journalistisch, als wir eher in der Außenwelt recherchieren, Gespräche führen, Aspekte zusammentragen, und bislang ist das Theater häufig der Ort, an dem man solche Suchbewegungen bündeln kann. So entstehen die Konzepte.
WamS: Am Anfang Ihrer Zusammenarbeit haben Sie den Theaterraum, die etablierte Bühne gemieden wie der Teufel das Weihwasser.
Wetzel: Ja, weil wir fanden, dass sich dort immer dasselbe abspielt, und dort ein Modell von Repräsentation zelebriert wird, das überkommen und problematisch ist.
Haug: Die Künstlichkeit und Selbstverliebtheit hat uns einfach nichts erzählt und ziemlich abgeschreckt.
WamS: Also sind Sie dann mit Ihren Ideen ‚auf die Straße gegangen’?
Haug: Nicht im Sinne von herkömmlichem Straßentheater. Wir haben beispielsweise Zuschauer auf Marktplätze oder in Leitstellen geführt und uns mit den Inszenierungsvorgängen an diesen Orten beschäftigt. Wir haben in Galerien gearbeitet und an Orten der freien Theaterszene.
WamS: Warum spielen Sie jetzt wieder auf der etablierten Bühne?
Wetzel: Die Bühne war schon so viel Verschiedenes, wir nutzen sie als Ort der Kunst, der von Nicht-Künstlern besetzt wird. Statt aus Werken zitieren sie aus ihrem Leben, und dort im Theater kann man ihnen dabei zusehen, wie sie sich und ihre Geschichte diesem Kunstraum entgegenstemmen. Das hat auch viel mit Spiel zu tun.