Von Doris Meierhenrich
08.01.2008 / Berliner Zeitung
Mittlerweile sind die Premieren von Rimini Protokoll kleine Feste. Dieses Mal vielleicht sogar etwas mehr, weil das Hebbel Theater zeitgleich einen ganzen Feiermonat zu seinem hundertsten Geburtstag einleitet. Gekommen aber sind alle wegen Rimini Protokoll, das in "Breaking News - ein Tagesschauspiel" diesmal dem weltweiten Fernsehnachrichtenzirkus auf der Spur ist. Viele Theatermenschen fanden sich ein, kleine Fernsehgesichter, man trank und scherzte ohne die Gereiztheit, die unter Premierenbesuchern sonst knistert. Eine muntere Blaskapelle schepperte dazu.
Woher diese Leichtigkeit des Rimini-Seins? Es scheint, als könne das freundliche Regiekollektiv Helgard Haug und Daniel Wetzel (Stafan Kaegi war dieses Mal nicht mit dabei) mit seinem halbdokumentarischen "Experten-Theater" aus der Gießener Schule nichts mehr falsch machen. Doch tatsächlich steckt man mit dieser Feststellung schon mittendrin in der schillernden, metamorphosehaften Vortragskunst aus Laien- und Expertentum, Fakten und Fiktionen, die die Drei in den vergangenen acht Jahren immer feiner entwickelt haben. Im Zentrum ihrer Arrangements stehen die immer anderen Experten, die nie Experten des Theaters sind, sondern Vertreter eines jeweiligen Berufsstands und des eigenen Lebens: "Experten des Alltags", für die Rimini Protokoll so etwas wie eine "Dramaturgie der Fürsorge" entwickelt hat, wie der Dramaturg Florian Malzacher in einer jüngst von ihm herausgegebenen wissenschaftlichen Anthologie schreibt.
Er hätte es nicht besser treffen könnte, denn hier wird nicht neu hergestellt, sondern Vorgefundenes arrangiert. Was nicht heißt, dass nicht gespielt und nur irgendeine Authentizität behauptet würde. Vielmehr enthüllen die hintersinnig lakonischen Verquickungen all dieser O-Töne immer genau den Umschlagpunkt, der sichtbar macht, wie viel theatralische Form in jeder Alltagsrealität steckt. Das ist die große Kunst dieses Theaters.
Patzer und Pannen, Lücken und unaufgelöste Widersprüche gehören wesentlich zu dieser umgekrempelten Experten-Methode, weshalb man einen Abend von Rimini-Protokoll nie einfach schlecht nennen kann. Denn das Theater hat sich genau den Zwischenräumen verschrieben, die glatte Zuweisungen hinter sich lassen, und durch die die Zuschauer selbst zur Denkarbeit gerufen werden. Diese ist immens: eine kritische und mitinszenatorische zugleich. Denn die vielen vorgetragen Details der Experten machen in den seltensten Fällen schlauer, sie werfen vor allem weitere Fragen auf: Was ist wirklich wahr daran, was wichtig, wo liegt der Haken? Rimini-Abende sind wie Detektivspiele, in denen man den Fall immer erst aufspüren muss.
Für die Nachrichtenwelt, wo alles Gesagte immer schon vermittelt ist, setzen die Riminis nun noch eins drauf: Die neun Experten, allesamt Dolmetscher und Journalisten, sprechen Meldungen aus den weltweiten Abendschauen nach. Diese werden bei jeder Vorstellung von "Breaking News" live über zweiundzwanzig Bildschirme ins HAU2 gespielt. Zwar verstärken die Darsteller damit den Stimmensalat nur ein weiters Mal, doch durchbrechen sie zugleich auch die Fernsehwand und öffnen mit ihren Hängern und Versprechern genau den Hohlraum, durch den sich die Frage nach dem Sinngehalt des Gebrabbels einschleicht.
Dabei geht einem kein Licht auf: Evident ist bei Rimini gar nichts. Ganz langsam aber frisst sich etwas Substanzielles in den Kopf, nämlich die Wichtigkeit der je einzelnen Situation. Etwa wenn der Medienkritiker Walter van Rossum sich wütend auf den Kopf stellt und einen "Perspektivwechsel" fordert, weil "Medien immer nur andere Medien beobachten, nicht die Realität". Und wenn dann wie zur Entgegnung der nachdenkliche ehemalige Afrikakorrespondent Hans Hübner bekennt, in seinen Einsatzgebieten zuweilen keine "sicheren Quellen" gekannt zu haben, außer die internationalen Agenturen.
Im HAU2 sind die Monitore zu einem Fernsehwald gestapelt, unterbrochen von einer Fotowand mit einem Satellitenschüssel-gespickten Wohnsilo aus der Pallastraße. Und man stellt sich spätestens die Quellen-Frage, wenn auch der sechste Experte, ein isländischer TV-Journalist, auf das Plakat zeigt und behauptet, er wohne im dritten Stock. Sämtliche Kollegen hatten sich zuvor ebenfalls in dem Betonklotz eingenistet: eine junge Dolmetscherin für Russisch und Englisch, eine Nachrichten-Cutterin vom ZDF, eine indische Sprecherin für die Deutsche Welle, ein Dolmetscher mit Sendegebiet Lateinamerika und ein Kurde mit politischen Absichten.
Das Misstrauen gegenüber den Boten zu wecken, ist der wichtigste Akt in diesem Hexenritt durch die Nachrichtenkanäle: Putins Skiurlaub, Cricket in Indien, eine Cellulosefabrik in Uruguay und Bürgerkrieg in Kenia, der es nur im arabischen Fernsehen zur Top-Meldung schafft. Erschiene hoch über den Fernsehniederungen nicht immer wieder Hans Hübner wie eine Apotheose und läse Passagen aus Aischylos' "Perser" dazu, man könnte sich das Newszapping sparen. Nun darf man sich fragen: Was ist der Unterschied zwischen Aischylos, dem mitkämpfenden Dramatiker in der Schlacht von Salamis, und dem "eingebetteten Journalisten" heute?