Von Renate Klett
14.06.2008 / Festwochen-programmheft
Rimini Protokoll: Der Name entstand aus lautmalerischen Gründen: Dreimal i, dreimal o – eine Vokalorgie, die glauben macht, sie würde auf etwas Politisches oder Historisches Bezug nehmen – aber niemand weiß, was das sein könnte. So pfiffig wie die Namensfindung sind auch die Aufführungen der Gruppe, die Realität in Theater verwandeln oder auf dem Theater ein Stück Realität ausstellen. Die „Riminis“ – das sind derzeit Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel – sind zu wahren Popstars des Avantgardetheaters geworden. Die Theoretiker lieben sie, weil sich mit ihnen so vieles beweisen lässt, auch Widersprüchliches, die Praktiker, weil sie alle Theaterbegriffe und –formen kräftig aufmischen, das Publikum, weil ihre Aufführungen amüsant und tiefgründig, anspruchsvoll und volkstümlich zugleich sind.
Keine Theatergruppe ist derzeit so „in“ wie Rimini Protokoll, und das so sehr, dass einem fast schon mulmig wird angesichts der Verdoppelung von Output und Resonanz, der Überhäufung mit Preisen, Lob und Theoriebildung. Und für was sie nicht alles herhalten müssen, als Beweisstück oder Utopie! Und wie viele Stadttheater sie plötzlich aufmöbeln sollen! Rimini ist drauf und dran, in der Jahresplanung der Großbühnen die Funktion des „Wittenbrink- Abends“ zu übernehmen. Vor zehn, fünfzehn Jahren luden Theater mit schlechter Platzausnutzung oder sonstwie in der Krise gern Franz Wittenbrink ein, der für sie einen thematischen Liederabend erfand und damit die Statistik nach oben trieb – heute macht Rimini ein Projekt mit „Experten des Alltags“, am besten zu einem lokalen Thema oder zum Spielplan-Schwerpunkt, und der Laden brummt.
Der Kulturbetrieb hat schon immer eine Begabung gehabt, selbst das Sperrige und Unerwartete zu absorbieren – er würde auch Rimini verschlingen, wenn, ja wenn die nicht so schlau wären, so wendig, raffiniert und unerschrocken.
Kennengerlernt haben sie sich am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, der berühmten Kaderschmiede fürs Performativ-Progressive. Noch während des Studiums arbeiten sie in wechselnden Konstellationen unter den Labels Hygiene Heute (Bernd Ernst/Stefan Kaegi), Haug/Wetzel oder Rimini Protokoll. Sie machen Installationen, Hörspiele, Theaterprojekte, Audiotouren (unvergesslich die Kirchner-Serie, bei der man nach Anweisung des Walkman durch die Stadt läuft, Kirchner sucht und überall Anzeichen für die Verschwörung zu seinem Verschwinden entdeckt). Es folgen Groß-Aktionen wie Deutschland 2, die Live-Kopie einer Bundestagssitzung, bei der 300 Bürger die Volksvertreter vertreten und in Bonn die Berliner Debatte Wort für Wort nachsprechen (die Aktion sollte im alten Bundestag stattfinden, musste aber in eine Theaterhalle verlegt werden, da sie angeblich die Würde des Hohen Hauses gefährdet hätte). Die Sonde Hannover hingegen darf am echten Kröpcke angelegt werden: Zwei Dutzend Zuschauer sitzen mit Kopfhörern und Ferngläsern im 10. Stock eines Hochhauses und beobachten den belebten Platz. Realität und Inszenierung vermischen sich und verunsichern die Wahrnehmung, bis niemand mehr sagen kann, was echt, was fiktiv ist. Und wie bei Kirchner schärft die Manipulation der Wirklichkeit den subjektiven Blick bei nachfolgenden Begehungen des Ortes: Man glaubt ihm einfach nicht mehr. So kann es einem auch bei Stefan Kaegis Cargo Sofia ergehen, wenn man hinter der Panoramascheibe eines umgebauten Lastwagens die Fracht ist, die zwei bulgarische Fahrer von Sofia in die jeweilige Stadt transportieren. Die Videoaufnahmen der echten Strecke zeigen die gleiche Trostlosigkeit wie die Gegend, die man auf seiner eigenen Fahrt betrachtet – folglich funktioniert eine von Rimini erfolgreichste Produktion in Avignon genauso gut wie in Riga oder Wien.
In anderen Projekten geht es nicht darum, die Realität oder was man dafür halten könnte zu manipulieren, sondern sie auf einer Bühne auszustellen (was per se Manipulation bedeutet) – Realität in Form von Menschen „in der Rolle ihrer selbst“. Diese so genannten Experten des Alltags definieren das gegebene Thema durch ihre beruflichen oder privaten Tätigkeiten, ob sie nun alle bei der bankrotten Fluglinie Sabena beschäftigt waren (Sabenation) oder das Kapital lesen, verdienen, sich vermehren lassen (Karl Marx: Das Kapital, Erster Band, gewann 2007 den Mühlheimer Theaterpreis). Auch die neue Produktion Breaking News von Helgard Haug und Daniel Wetzel spielt auf einer Bühne, und die ist mit zwei Dutzend Monitoren, Holzgerüsten und Sitzgelegenheiten in eine begehbare Installation verwandelt. Diesmal sind die Experten Journalisten, Dolmetscher, Cutter, Nachrichtenredakteure, oder Medienkritiker, und wir erleben sie bei der Arbeit. Der Live- Mix von Nachrichten aus russischen, lateinamerikanischen, isländischen, kurdischen, pakistanischen Sendern, dazu dem Pentagon Channel und Al Jazeerah sowie der AR D mit der Tagesschau um Punkt Acht (respektive dem OR F mit der ZiB) ergibt ein wüstes TV-Mosaik aus Weltpolitik, Katastrophenmeldungen und Tagesklatsch.
Da die Aufführung mit Satellitenhilfe jeden Abend in Echtzeit zusammen geschaltet wird, hängt immer ein Hauch von Chaos und Improvisation über dem Geschehen. Der Nachrichtenredakteur springt von Sender zu Sender, die Journalisten erläutern die Beiträge, die Übersetzer dolmetschen sie und liefern persönliche Erfahrungsberichte. Und die Cutterin fügt das Material nach zwei Grundsätzen zusammen: Dass man in 1 Minute 20 Sekunden die Welt erklären kann und dass die Bilder bestimmen, was Gegenwart ist. Ein ehemaliger Theaterkritiker, später Afrika-Korrespondent, thront über den Kollegen und stellt Die Perser des Aischylos vor, das älteste Drama der abendländischen Theatergeschichte, das der Bericht eines Krieges und seiner Folgen ist. Die Akteure sprechen einzelne Figuren oder zusammen den Chor, die antiken Journalisten, Boten genannt, kleiden ihre Informationen in prunkende Worte – die Nachrichtenübermittlung des Altertums ist, da nicht vom Bild abhängig, deutlich analytischer als die heutige.
Zwei News-Broker sind besonders eloquent. Djengizkhan Hasso, Dolmetscher, jesidischer Priester, Psychologe und Präsident des Exekutivkomitees des kurdischen Nationalkongresses wurde in letztgenannter Funktion sogar im Weißen Haus empfangen. Nun stellt er diesen Empfang auf der Bühne nach, und schickt der amüsanten Spielszene den Satz hinterher: „So etwas wäre in einem islamischen Land nicht möglich.“ Walter van Rossum, Journalist und Autor, fordert einen radikalen und grundsätzlichen Perspektivwechsel für alle Nachrichten und illustriert das, indem er die Tagesschau im Kopfstand ansieht. „Journalisten haben Angst vor der Realität“, sagt er. „Deshalb beobachten sie nicht die Realität, sondern die anderen Medien.“