Von Roland Pohl
06.12.2004 / Der Standard
Foto: Flaggen, deren heraldischen Gehalt nur ausgewiesene Spezialisten "lesen können": Ulrike Zimmel erläutert Nationalfarben, ein Konsulatssekretär (Horst Fischer) geht ihr zur Hand
Wien - Diplomatie unterscheidet sich von anderen Beobachtungsarten der Wirklichkeit durch ihr gerütteltes Maß an Geheimniskrämerei. Denn während ihre Protokollpunkte - das Knattern der Papierfähnchen, das Bajonettblinken der Ehrenformationen, das Geschnatter auf den Empfängen - vom Alltagsleben prunkvoll abstechen, zehrt ihre Substanz von der Vorstellung, hinter der sinnfälligen Wirklichkeit verberge sich eine höhergradige, mit Gefahren behaftete Realität.
Diplomaten erwecken den Anschein, dass sie unermüdlich Unheil abwenden - sich an entlegenen Weltorten für das Vaterland aufreiben oder blutig wetzen. Im Kasino des Burgtheaters, in dem die Theaterprojektgruppe Rimini Protokoll ihr lokalpolitisch eingefärbtes Programm Schwarzenbergplatz präsentiert, kommt eine weitere Komponente hinzu: Gewesene und amtierende Diplomaten tragen auf ihren laienhaften Theaterschultern die Übernahmelasten kaiserlicher und königlicher Tradition.
Denn bei mildem Scheinwerferlicht besehen sind Diplomaten nebst ihren staatsangestellten Zuträgern und Dienstleistern leidlich witzige, aber nicht weiter verhaltensauffällige Zeitgenossen.
Vollendete Manieren
Sie bringen, wie im Fall des soignierten China-Botschafters i. R. Wolfgang Wolte, ein gemütlich näselndes Schönbrunner Deutsch zum Vortrag. Sie tragen ausnehmend gut geschnittene Anzüge, und sie wissen auf Befragung im Nu, ob und wo die nordkoreanische Botschaft in Wien ihre Residenz unterhält ("Nordkorea? Jo, hamma eine . . .").
Beamtete Befehlsempfänger des Auswärtigen Amts gehören jener Experten- und Spezialistenkultur an, mit deren Präparierung sich die Rimini-Regisseure Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel wie Käferforscher an lebenden Präparaten abschinden. Sie selbst weisen alle ethnologischen Interessen brüsk von sich und besetzen mit ihren Theaterdokumentationen eher neuralgische, vieldeutige Haltepunkte des Sozialen.
Die drei Absolventen der berühmt-berüchtigten Gießener Theaterwissenschaft, auf der nur ein Leibchen übergezogen kriegt, wer das Unwort "post-theatral" unfallfrei über die Lippen bringt, sickern mit ihren Sonderinteressen durch die Hintertüren der Stadttheater herein. Sie werden als Wirklichkeitsverstärker von routinemüden Theaterbetriebsleitern willig hofiert und als liebenswürdige Exoten wie Heilsbringer gehandelt.
Längst regnet es Preise für das Team, das sein "Headquarter" am Berliner Hebbel-Theater aufgeschlagen hat. In Wien, wo neun Mitwirkende durch einen episodisch aufgebauten Crashkurs geführt werden, überwiegt noch etwas eine gemütlich tuende, nur in Maßen erzählfähige Dienstvorschriftsmentalität. Doch freilich lebt die Diplomatie auch von der Bezähmung ungesunder "Leidenschaften".
Zwischen Lorbeertopfpflanzen, so genanntem "Jubelkraut", und nadelgespickten Weltkarten entfaltet sich ein unaufgeregter Diensteifer. Gewesene Gardebataillonskommandanten (Thomas Mader) plaudern aus dem Nähkästchen. Eine Nationalfahnentuchnäherin (Ulrike Zimmel) erläutert Angebot und Nachfrage im Flaggenwald ("Polyesterwirkware!").
Nur ganz behutsam, sozusagen durch die Nahtstellen einer unspektakulären Themenaufbereitung rieselt Material für nachhaltige Irritationen: Eine Ex-Generalkonsularsgattin (Brigitte Hörbinger) befestigt ihre Erinnerungen an die zahlreichen Stationen ihres mondänen Wanderlebens als Luxusverschickte - an der Garderobe, die sie zum jeweiligen Anlass trug. Und während ringsum Spezialisten und Experten mit den Jubelkrautpflanzen Walzer tanzen, sieht man, ohne dass die Dame mutwillig denunziert würde, die bizarren Scherben eines Lebens auf Abruf.
Solche Augenblicke machen Schwarzenbergplatz zu einem der wesentlicheren Abende dieses Wiener Theaterherbsts. Eine Chinesin mit befristeter Aufenthaltsbewilligung (Ying Xie) frappiert mit Liedgesang - und alle globalen Verständigungsschwierigkeiten scheinen im Nu transzendiert. Nur die Wunden der Weltkultur schwären unverändert weiter. (DER STANDARD, Printausgabe vom 6.12.2004)