Von Dennis Kogel
01.09.2010 / GEE Magazin Nr 55
Das klassische Theaterpublikum wird selten in Verbindung mit Games gebracht. Die Performancekünstler Rimini Protokoll wollen das ändern. Best Before bringt Videospiele auf die Bühne, macht das Publikum zum Co-Op Partner und liefert erstaunlich spannende Einsichten in die Funktionen des Mediums Spiel.
Wild hüpfen bunte, kugelige Wesen durch das simplistische „Bestland“, die Welt eines Videospiels. Was aus den Bewohnern der Welt wird, bestimmt das Publikum des Theaterstücks „Best Before“ der Berliner Performancegruppe Rimini Protokoll. 200 Zuschauer sitzen vor einer riesigen Leinwand, auf die das Spiel projiziert wird, und steuern per Gamecontroller jeweils ein Kugelwesen durch sein virtuelles Leben. Jeder ist ein Individuum, jeder ist aber auch Teil der Masse. Während die Game Designerin Brady Marks, die „Best Before“ als PC-Spiel programmiert hat, per Keyboard Ereignisse wie Wahlen, Börsencrashs und Erdbeben auf der Leinwand auslöst, kommentieren Schauspieler das Geschehen – und sie stellen dem Publikum immer wieder Fragen. Erst einfache, dann immer komplexere. Zu Anfang fragen sie nur nach dem Geschlecht der Figuren, woraufhin sich das Spielfeld in zwei Hälften teilt: Wer eine weibliche Kugel haben möchte, hüpft in die rechte Hälfte, männliche Figuren springen in die linke.
Die Fragen und Konsequenzen werden schnell komplexer: Nur wer sich bei den Multiple-Choice Fragen durch Hüpfen in die dementsprechende Spielfeldhälfte für Videospiele statt fleißigem Lernen entscheidet, wird später eine Chance auf einen Job als Spieletester haben. Entscheidet sich das Publikum gegen ein stehendes Heer indem es sich auf der Pazifistenseite des Felds bequem macht, gerät Bestland in einen Krieg und die Hälfte der Spielfiguren wird schwer verwundet. Ihre Körper tragen die Konsequenzen: Bücherwürmer tragen Brillen, Spieletester Gamecontroller und Kaffeetassen, und Veteranen sind vernarbt. Die Entscheidungen über die eigene Spielfigur weiten sich zu Fragen über die Gesellschaft von Bestland aus. Erlaubt das Publikum Abtreibungen? Wen wählt es zum Präsidenten? Die Ereignisse werden nur stilisiert dargestellt: Schüsse und Schreie aus dem Off kennzeichnen etwa Krieg. Das Publikum darf nur die Weichen stellen, die Blobs bei der Arbeit oder im Krieg steuern ist nicht möglich; nur ein spätes Wetthüpfen im Stück bietet sich als Spiel im Spiel an. Die Schauspieler auf der Bühne, die sogenannten „Experten des Alltags“, stellen zwar die Fragen und ergänzen das Geschehen dabei mit Anekdoten aus ihrem Leben, sind aber genauso Teil des Spiels, genauso gespannt auf die Reaktionen der Spieler.
Best Before lässt 200 Menschen zusammen eine Geschichte erstellen. Das Publikum entscheidet über die Richtung der Narration. Es kann Bestland durch die Wahl eines Despoten in eine Militärdiktatur verwandeln oder versuchen mit liberalen Entscheidungen oder lautstarker Absprache im Saal einen funktionierenden Sozialstaat zu errichten. Der Ausgang bleibt immer gleich: alle Figuren sterben früher oder später – es ist aber immer das Publikum, das bei „Best Before“ für sich den Spielverlauf mit einem Sinn versieht, aus simpler Hüpferei die Entstehung einer neuen Gesellschaft macht. Die Erschaffung einer für das Publikum perfekten Gesellschaft ohne größere Konflikte erzeugt nicht unbedingt die interessanteste Narration. Als ich selbst im Publikum saß, habe ich In meiner Zeit als Präsident versucht, richtige Entscheidungen zu treffen: keine Krieg, aber Krankenversicherung – langweilig. Kein Vergleich zum dramatischen Blob-Aufstand gegen einen böswilligen Diktator: „Meistens wird die größte Sau Präsident. Die Gesellschaft kann dann entscheiden wie mit ihm verfahren wird“, sagt Rimini Protokoll-Leiterin Helgard Haug (41). „Wird er exekutiert? Wird er ins Exil geschickt? Das finde ich eigentlich die tollste Szene.“
Mit „Best Before“ hinterfragt Rimini Protokoll modernes Spieldesign und liefert ein Statement ab über die Macht und Machtlosigkeit des Spielers. Wir als Zuschauer werden zu Spielern, aber gleichzeitig immer auch zu einem Teil des Spiels. Wir werden zu Bradys Spielzeug, aber auch sie ist den oft überraschenden Entscheidungen der Spieler ausgeliefert. „Man braucht immer die anderen“, ist laut Helgard Haug eine der Schlüsse, die das Publikum nach einer Runde „Best Before“ ziehen sollte. Eigentlich ein Leitspruch der demokratischen Entscheidungsbildung im Stück wird der Satz zu einem Eckpfeiler guten Game Designs. Ob im Theater oder auf dem heimischen Bildschirm: Nur gemeinsam können Game Designer und Spieler etwas Wunderbares entstehen lassen.
Best Before wurde in Vancouver uraufgeführt und ist unter anderem durch London, Toronto und Berlin getourt. Diesen Herbst ist Best Before in Aarhus, Genf, Udine, Torino und Paris zu sehen.