Von Doris Meierhenrich
20.05.2011 / Berliner Zeitung
Was hätten die Genossen in den Telefonzentralen und Operationsstäben der DDR-Staatssicherheit sich wohl gefreut, wäre GPS-Technik zur Hand gewesen. Wie schön hätten sie die Bewegungen all ihrer Verdachts-"Objekte" (die zuweilen auch "Subjekte" hießen) durch die Stadt verfolgen lassen! Wie leicht wären die Bewegungsprofile mittels SMS-Empfehlungen zu beeinflussen gewesen!
Kein ständiges Personalaufstocken wäre nötig gewesen, um der immer dringlicher werdenden Observierungslage im Arbeiterstaat Herr zu werden. Keine Vielzahl konspirativer Wohnungen, wie die in der Reinhardtstraße 8, hätte unterhalten werden müssen, um den "Mitarbeitern" einen Umkleideraum zum Überstreifen ihrer auffälligen Unauffälligkeit zu schaffen. Keine komplizierte Rastereinteilung der Republik in Abteilungen, Unterabteilungen, Abschnitte und Sonderbehandlungsbezirke, wie sie das "Organigramm" des Stasi-Verwaltungsapparats widerspiegelt und als zweite Geografie über das Land legte. Nichts von all dem, nur ein paar Computer und die netten Smartphones, die sich jeder Bürger ganz von selbst zugelegt hätte.
Heute nimmt man nun aber ein solches Smartphone, einen Kopfhörer und den Stadtplan aus den Händen von Rimini Protokoll in Empfang. Man macht sich als "inoffizieller Mitarbeiter" des Performancekollektivs auf, um von ihrer Zentrale unter dem Fernsehturm aus in dem Radioortungs-Projekt "50 Aktenkilometer" die Stadt als einstigen Stasi-Abhörraum zu erkunden. Man ist also unterwegs und horcht an den entsprechend programmierten Orten den Stasi-Horchern nach. Und man denkt tatsächlich keinen Moment daran, dass man dabei nun seinerseits von den Performern digital dauerobserviert wird. Erst am Ende, wenn der freundliche Herr einem bei Rückgabe der Geräte jenen Plan aushändigt, der die rote Schleichspur des Weges zeigt, den man soeben einsam durch die Stadt zog, fährt einem der unerwartete Stich durch die Magengrube.
"50 Aktenkilometer", das Protokolle aus Stasi-Akten und Erzählungen von Observierten und Observierenden zu einem "begehbaren Hörspiel" zwischen Alex, Chausseestraße, Brandenburger Tor und Checkpoint Charlie vernetzt, ist ein Augen öffnender Gang in die DDR-Geschichte wie in die gegenwärtige Selbsterfahrung jedes Menschen.
Natürlich kennt man als Internetnutzer die "Abschöpfer" unserer Tage genau, doch - und das ist das herrlich Zwielichtige dieses historisch-kritischen (Ab)Hörpfads - man verlässt hier alles Routinewissen und gerät unversehens in fremde Wahrnehmungsstadien. Auf dem Weg durch die Stadt nämlich, der zugleich immer eine Suche nach den Sendedaten der Hörblasen an bestimmten Orten ist, kämpft man sehr bald selbst mit dem Ehrgeiz des schnüffelnden Pedanten in sich.
Spaziert man dann weiter, vielleicht Richtung Moll- und Keibelstraße, dorthin wo die Untersuchungshaftanstalt war, fühlt man sich durch die Stimmen im Ohr zunehmend selbst von Blicken verfolgt. Etwa, wenn man hört, wie eine Plattenbau-Bewohnerin an der damaligen "Protokollstrecke" von heimlichen Durchsuchungen ihrer Wohnung berichtet, das Gefühl der Dauerbeobachtung sie bis heute plagt. Und wenn man Richtung Sophienstraße jemand anderem beim Lesen seiner Akte zuhört, sich noch über die vielen genauen und völlig unwichtigen Details darin wundert. Da erschrickt man plötzlich, wenn zufällig neben einem ein Polizeiauto hält.
Es sind dramatische und tragische, widersprüchliche und in ihrer Banalität bitter lachhafte Geschichten, die man auf dieser Wanderschaft durch die Stadt und in die Formen des Sehens erfährt. Und das suchende Auge durchlebt dabei ungekannte Metamorphosen: Das Sich-Identifizieren wird plötzlich hässlich. Auf Allzubekanntes, wie die üblichen Grenzkontrollberichte am Übergang Friedrichstraße, hätte man auf diesem Trip in Kalte-Kriegs-Zeiten verzichten können.
Und doch vergehen die Stunden auf dieser Reise ins Labyrinth des Verdachts wie im Fluge.