Von Hubert Spiegel
11.11.2003 / Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der Traum des Fremdlings: einmal in der unbekannten Stadt, durch die er seit Stunden, Tagen oder Wochen flaniert, vor einer Haustür stehenbleiben, klingeln und hineingehen. Wie mag es drinnen aussehen? Wie richten die Menschen, die hier leben, ihre Wohnungen ein? Verbergen sich hinter prächtigen Fassaden schäbige Räume und hinter heruntergekommenen Fassaden prachtvolle Interieurs? Wenn man nur einmal hineindürfte, sich ein wenig umschauen zwischen den Bewohnern, die lesend auf dem Sofa säßen, als wäre der Besucher unsichtbar für sie. Man müßte nur klingeln.
Schon geht die schwere Haustür auf, der Flur ist schmal und dunkel, aber die Tür an seinem Ende, sie muß vor Menschengedenken einmal weiß gewesen sein, öffnet sich nicht. Man klopft, leise, aber beharrlich. Niemand öffnet. Hinter der Treppe, die in die oberen Stockwerke führt, befindet sich noch eine Tür zum Hinterhof. Von hier aus kann man bequem über ein Zäunchen auf den Balkon steigen, aber auch die Balkontür ist verschlossen. Wieder leises, beharrliches Klopfen. Und tatsächlich, endlich öffnet sich eine Tür, und man wird wortlos hereingebeten. Zur Begrüßung wird der Eindringling fotografiert. Aber keine Sorge, es ist kein Beweisfoto, das hier aufgenommen wird, sondern eher ein freundliches Erinnerungsbild, das später einmal an den Überraschungsgast erinnern soll. Der Hausherr geht voraus, wortlos. Fast scheint es, als habe er den Gast bereits wieder vergessen, der nun Zeit genug hat, sich umzusehen und seine Neugier zu stillen.
Eine Studentenbude. Die Küche: klein und dunkel. Der Flur: klein und vollgestellt. Das nächste Zimmer ist Eß-, Wohn- und Arbeitsraum. Auf dem Schreibtisch steht ein Computer, auf dessen Monitor gerade ein Film läuft. Er zeigt drei Menschen in drei verschiedenen Badezimmern bei der Schönheits- und Zahnpflege. Als der Film zu Ende ist, schauen die Bewohner kurz von ihrer Lektüre auf, nicken freundlich zum Abschied, bleiben aber träge auf ihren Sofas kleben. Der Eindringling wird den Weg hinaus schon alleine finden. Draußen geht der Blick noch einmal zu den Fenstern im Hochparterre, aber hinter den Gardinen regt sich nichts. Die Fenster, das Haus, die Straße: noch immer fremd. Aber nicht mehr so fremd wie zuvor.
Solche Erfahrungen kann man in Krakau machen. Auf eigene Faust, wenn man mutig und aufdringlich genug ist, oder im Rahmen von Stefan Kaegis Projekt "Skrot oder Krakau Files", einem künstlerischen Projekt, das niemand als Theaterstück bezeichnen würde, das aber unleugbar theatralische Wurzeln hat. Wie soll man Kaegis jüngste, soeben in Krakau inszenierte Arbeit bezeichnen? Es ist eine melodramatische Schnitzeljagd für nomadisierende Theaterliebhaber, für Zuschauer, die es nicht auf ihren Sesseln hält und die bereit sind, selbst auf die Bühne zu treten und sie zu erwandern - so weit die Füße tragen.
Ausgangspunkt der Reise ist das Goethe-Institut am Rynek, dem imposanten Marktplatz Krakaus. Hier erhält der Zuschauer, den man besser Teilnehmer nennen sollte, einen Umschlag mit achtseitigen Instruktionen, Regieanweisungen, wenn man so will, und einer Telefonnummer für den Notfall. Wer den Faden verloren hat, sich nicht mehr auskennt, sich so weit an den Rand der Geschichte gewagt hat, daß er aus dem Bühnenbild gefallen ist, kann sich telefonisch ins Geschehen zurückführen lassen. Eine Methode, die nicht ohne weiteres aufs Stadttheater und seine Klassikerzertrümmerungen zu übertragen ist. Die Leitungen würden heißlaufen. In Kaegis Krakau-Projekt, das große Teile der Stadt als Bühne nutzt, ist die Vorsichtsmaßnahme jedoch praktikabel und alles andere als überflüssig, wie sich noch zeigen wird.
Zunächst jedoch ist alles noch ganz einfach. Noch im Goethe-Institut lesen wir Mareks Brief an seine Schwester und hören die erste der Tonkassetten, die er an zahlreichen Orten der Stadt zurückgelassen hat. Nun werden wir, Brief für Brief, an immer neue Orte in Mareks Krakauer Leben geführt. An jeder Station wird seine Geschichte weitererzählt: wie der Junge aus der Provinz zum Studium in die große Stadt kommt, sich nicht einleben kann, einen Freund findet und wieder verliert und nach dessen Tod zügig unter die Räder kommt.
Bald schon haust Marek in einer Bretterkiste auf dem Uni-Gelände und verstaut seine Siebensachen in einem Schließfach, das man besichtigen kann. Der Pförtner des Universitätsgebäudes, das zwei, drei Straßen hinter dem Goethe-Institut liegt, rückt auf ein Stichwort den Schlüssel heraus, den jeder Teilnehmer brav zurückträgt, nachdem er den Blick auf Turnschuhen, zwei Handtüchern und einer Tütensuppe ruhen ließ. Unterdessen rauschen die Krakauer Studenten, von denen es über hunderttausend in der Stadt gibt, an den Schließfächern vorbei, ohne zu wissen, daß sie gerade Statisten in einem Stück sind, das von einem erzählt, der einmal zu ihnen gehören wollte und keinen Anschluß fand.
Wie bei jeder Schnitzeljagd besteht auch bei "Skrot" die Aufgabe darin, eine vorgegebene Wegstrecke nachzuvollziehen. Zu Fuß, versteht sich. Es gibt Hinweise, denen man folgen muß und die zuweilen aus Rätseln bestehen können. Mitunter kann man auf Abwege geraten, auf freiwillige wie auf unfreiwillige. Darin liegt der Reiz des Unternehmens und seine Schwierigkeit. An Ablenkung herrscht kein Mangel. So führt zum Beispiel ein hoher, rattenartiger penetranter Pfeifton, der aus einer am Wege liegenden Kirche dringt, zur ausgiebigen Besichtigung derselben. Das Pfeifen kam übrigens von der Orgel, die auf dem letzten Loch pfiff, weil sie gestimmt werden mußte. Eine andere Station ist das Hotel, in dem Marek eine Zeitlang gearbeitet hat. An der Rezeption erhält man eine Tonkassette; die Anweisungen für die nächsten Schritte gibt indes Mareks Kollegin am Empfang, die zwar rechts sagt, aber nach links zeigt, so daß der Teilnehmer schwungvoll in die falsche Richtung segelt.
In der Zwischenzeit sind im Goethe-Institut längst andere Teilnehmer aufgebrochen, jeder für sich und einer nach dem anderen im viertelstündigen Abstand. Weil manche schneller gehen als andere, die hier einen Kaffee trinken, dort einen Einkauf erledigen, kann es zu außerplanmäßigen Begegnungen kommen. Solange man nicht miteinander spricht, bleibt es jedoch beim bloßen Verdacht, bis schließlich fast jeder Passant suspekt wird und man sich dem zunehmend paranoiden Einzelgänger Marek näher fühlt, als einem lieb sein kann. Womöglich gibt es sogar Streckenposten und Stationswarte, die heimlich die Teilnehmer beobachten. Und hatte sich nicht schon mehrmals schemenhaft der Regisseur gezeigt? Pfeilschnell saust er auf einem roten Damenrad über die Bühne, auf der naturgemäß die Straßenverkehrsregeln gelten, so daß er sich in acht nehmen muß.
Gerade für Irrläufer könnten solche zufälligen Begegnungen hilfreich sein. Weil aber weder der allzu langsame mürrische Brillenträger vor uns noch die allzu flotte junge Dame mit der Baskenmütze hinter uns weit und breit zu sehen sind, suchen wir weiter vergeblich das "Gabinet Kosmetyczny", wo Marek sich ein wenig verschönern lassen wollte. Von hier aus wäre es zu einem Lampengeschäft gegangen, das wir aber ebenso verpassen wie Mareks Freund Arthur, der in der Nähe wohnt. Schließlich bremst das rote Damenrad neben uns, und der Regisseur fragt höflich, ob wir eigentlich absichtlich in die falsche Richtung liefen. Wenige Minuten später sind wir wieder im Spiel und auf der richtigen Fährte. Bald werden wir auf Monika treffen, Mareks große Liebe. Ihr Bild hängt im Schaufenster eines Fotoateliers, ein Geigenbauer zeigt uns die Violine, deren Klänge ihr Herz erweichten, am Straßenrand steht ein winziger Wohnwagen: Mareks mobiles Heim. Der Film mit der Anleitung zur Schönheitspflege stammte übrigens aus der Zeit, als Marek um Monika zu werben begann. Die Sache endete erwartungsgemäß tragisch. Ein Nebenbuhler hätte Marek fast vergiftet, so daß wir auf der inneren Station des Krakauer Militärhospitals landen, wo wir die vorletzte Instruktion in Empfang nehmen.
Je nach Spürsinn, Tempo und Ablenkungsresistenz dauert Stefan Kaegis Krakauer Stadt-Theater zwischen eineinhalb und vier Stunden. Wenn der Teilnehmer am Ende von einem Taxi in Empfang genommen wird, ist dies geradezu ein Akt der Barmherzigkeit: Nie hätte man allein in die Innenstadt zurückgefunden.
"Skrot oder Krakau Files" ist ein theatralisches und städtekundliches Unternehmen, ebenso surrealistisch wie naturalistisch, das auf subtile Weise jeden, der damit in Berührung kommt, zum Mitspieler macht. Die Geschichte von Marek ist ein Bildungsroman auf dem Niveau eines Groschenheftes: die pure Kolportage. Aber auf die Geschichte kommt es auch nicht an.
Kaegis Prinzip ist das des theatralischen Readymades in der Tradition Marcel Duchamps: Die Realität wird zur Kunst erhoben, die ihren Kunstcharakter im Moment der Rezeption erhält. Weil der Regisseur das Spiel mit der Improvisation liebt und dem Zufall zugetan ist, muß er in Kauf nehmen, daß ihm seine Stücke im Moment ihrer Realisierung aus der Hand genommen sind. Wie wollte man etwa entscheiden, wo die "Krakau Files" anfangen und wo sie aufhören? Gehören die hektischen Gespräche, die der Regisseur noch kurz vor dem Rückflug nach Deutschland vom Krakauer Flughafen aus mit seinen polnischen Mitarbeitern führt, nicht auf vertrackte Weise noch zum Stück? Natürlich geht es vordergründig darum, sicherzustellen, daß "Skrot oder Krakau Files" auch künftig noch auf dem Krakauer Spielplan stehen kann. Aber weil Kaegi gleich die halbe Stadt zu seiner Bühne machte und Abmachungen mit verschiedenen Wohnungs- und Ladeninhabern getroffen hat, bedarf sein Projekt der permanenten Betreuung. Was passiert, wenn der Besitzer des Wohnwagens mit seinem Vehikel in Urlaub fährt, der freundliche Parkwächter, der Geigenbauer oder der Pförtner die Lust am Theaterspiel verlieren?
Kaegis Assistenten, junge polnische Künstler und Studenten aus dem Umfeld des Goethe-Instituts, das Kaegis Projekt finanziert hat, müssen "Skrot" nun allein weiterführen, denn der Absolvent des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft ist längst unterwegs zu anderen Ufern. Einen festen Wohnsitz hat der vielbeschäftigte Regisseur zur Zeit nicht, mit einem Koffer und sehr viel Handgepäck reist er von Projekt zu Projekt. In Frankfurt, wo in Zusammenarbeit mit dem Mousonturm Arbeiten wie "System Kirchner" oder "Kreuzworträtsel Boxenstopp" entstanden, lagern noch Bücherkisten. Stefan Kaegis Projekte, angesiedelt zwischen Performance und Theater, erzählen fiktive Geschichten in authentischem Rahmen. Daraus entstehen Reflexionen über den schmalen Grat zwischen Fiktion und Realität, Banalität und Kunst. Theater ist das nicht, aber es scheint das Theater zu interessieren, sonst wäre Kaegi, der 1972 in der Schweiz geboren wurde, nicht soviel gefragt, von Hamburgs Kampnagel bis zur Wiener Burg.
In Krakaus Sobieskiego-Straße Nummer 1, Wohnung Nummer 14, sollte man klingeln und durch die Gegensprechanlage folgende Frage stellen: "Würden Sie mich reinlassen, wenn ich ein Spiel mit Ihnen spiele?" Hier ist es der Zuschauer, der fragt und nicht ahnen kann, daß er damit genau jene Frage ausspricht, die alle Arbeiten Stefan Kaegis an den Zuschauer stellen.
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.2003, Nr. 262 / Seite 40
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