Atmosphärisches Rauschen

Ein Volksvertreter will nicht, dass das Volk ihn vertritt

Von Sylvia Staude

18.03.2002 / Frankfurter Rundschau

 

"Weil mir das Thema Stammzellenforschung am Herzen liegt", möchte einer mitmachen. Ein anderer wäre gern Heiner Geißler, "aus Respekt vor seiner Person". Ein dritter will "liberale Politik vertreten", eine vierte möchte Rita Süßmuth sein, "weil die mir sympathisch ist": Das Volk bewirbt sich, um seine Volksvertreter zu vertreten. Und zwar an einem ganz bestimmten Tag, dem 27. Juni, für die Dauer einer Bundestagsdebatte. Die gewählten Volksvertreter werden in Berlin debattieren, das von vier Theatermachern ausgesuchte "Volk" das Gesagte mit ein, zwei Sekunden Verspätung und möglichst vollständig in Bonn wiederholen. Geplant war das Projekt für den ehemaligen Plenarsaal in Bonn. Doch Bundespräsident Wolfgang Thierse hat jetzt sein Veto eingelegt, weil er die Würde des Bundestages in Gefahr sieht.

Thierses Nein ist verständlich, wenn man ein Theater im Kopf hat, das im Stil schlechter Kabarettisten Politiker nachahmen lässt, weil es meint, sie so vorführen zu können. Und dann auch noch von Laien! Doch den vier jungen Theatermachern ein so phantasieloses Konzept unterstellen kann nur, wer ihre Arbeit nicht kennt: Bernd Ernst, Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, die einen ihrer Arbeitsschwerpunkte am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm haben, versuchen auf verschiedenste Art und Weise, die Welt ins Theater zu holen, ohne sie zu denunzieren. Auch bringen sie keineswegs zum ersten Mal Laiendarsteller auf die Bühne; diese behielten immer ihre Würde, die Inszenierung behandelte sie mit Respekt.

Die Menschen, die sich bisher für das Bonner Projekt mit dem Titel "Deutschland 2" beworben haben, das im Rahmen des Festivals "Theater der Welt" stattfinden soll, haben zudem einen umstürzlerischer Energien unverdächtigen Altersdurchschnitt von etwa 55 Jahren, sie sind Ministerialbeamter, Fremdsprachensekretärin, Werkzeugmacher, ehemaliger Berufssoldat, Zahnarzt, Bürokauffrau, Konditor, Apothekerin. Ihre kurzen Statements belegen ein ungewöhnlich starkes Interesse an Politik, auch Sympathie für bestimmte Abgeordnete oder ihre Arbeitsgebiete. Manche würden am liebsten Joschka Fischer nachsprechen, aber es werden auch viele weitgehend unbekannte Abgeordnete genannt. Und sicher ist auch jemand dabei, der gern Wolfgang Thierse vertreten würde. Obwohl dieser auf Gesprächs-Gesuche seitens der Künstler bisher nicht reagiert hat.

Thierse wird seinem Double nicht entgehen, so oder so. Bonns Intendant Manfred Beilharz hat bereits das Opernhaus angeboten, dort könnte das Projekt "Deutschland 2" stattfinden, wenn der Bundespräsident bei seinem Nein bleibt. Beilharz ist freilich auch der Meinung, das Verbot richte "enormen Schaden an", da das Projekt "nur an diesem Ort Sinn" mache, wie er schrieb.

Würdelosigkeit droht - ob an diesem oder jenem Ort - nicht wegen der "Laiendarsteller", sondern nur durch das, was sie ihren Volksvertretern nachsprechen müssen: Deren Rhetorik zwischen diplomatischem Rumeiern und polemischer Zuspitzung könnte sich - wenn man dem Gesagten als Theater-Text tatsächlich zuhört und es nicht nur als atmosphärisches Rauschen während der Tagesschau wahrnimmt - plötzlich gegen sich selbst wenden. Hören wird das dann allerdings nicht mehr viel Volk: Nach Thierses Nein hat der Sender 3sat seine Pläne aufgegeben, "Deutschland 2" zu übertragen.


Projekte

Deutschland 2 (Theater)