Von Ronald Meyer-Arlt
26.03.2002 / HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG
Hannoversche Allgemeine Zeitung, (, Zeichen)
Sein Vortrag im Staatstheater Saarbrücken trug den Titel „Politik und Theater – Darstellungskunst auf der politischen Bühne“. „Alles nur Theater!“ hieß es nach dem Vortrag im Theater, und man empörte sich, dass alles nur gespielt war. Aber was heißt schon nur? Es war wohl ganz gut gespielt. Hätte Müller nichts verraten, hätte keiner etwas gemerkt. Die Empörung, die Zwischenrufe – man hätte das als das wahrgenommen, was es ist: ganz normales Polittheater. Das Medienpublikum weiß ja, wie das Spiel geht und dass zur Rolle eines Politikers eben auch gelegentliches Empörtsein gehört. Der Skandal war die Verabredung des Spiels in einem Hinterzimmer. So was darf nicht zum Polittheater gehören, das gehört in die Sphäre des wirklichen Theaters. Wirklich? Die Empörung über die Empörung, die sich in dem Ruf „Alles nur Theater!“ ausdrückt, bezieht sich auf ein altes Theater, das Theater der Verstellung, des „So tun als ob“. Diderot war der Erste, dem die Kunst des Rollenspiels Anlass zur Verwunderung gab. In seinem „Paradox über den Schauspieler“ fragte er sich, wie es einem Schauspieler gelingen kann, die gleiche Rolle mehrmals hintereinander mit der gleichen emotionalen Intensität zu spielen. Sein Befund: Der Schauspieler darf, um Gefühlen Ausdruck zu verleihen, selbst keine Gefühle haben, er braucht Distanz zu den dargestellten Emotionen, er arbeitet mit Berechnung statt mit Empfindung. Dem Schauspieler wird diese Distanz vom Publikum gegönnt, dem Politiker nicht. Von ihm erwartet man Wahrhaftigkeit, Empfindung also statt Berechnung. Das neuere Theater jedoch ist längst nicht mehr der Ort der kunstvoll berechnenden Verstellung. Spielarten der künstlerischen Performance haben auf den Bühnen Einzug gehalten, die Wiederholbarkeit eines theatralischen Ereignisses ist dabei nicht immer gewährleistet, Rollen lösen sich auf, Theater versucht, nicht mehr allein Ort des „Als ob“ zu sein. Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann hat diese Formen des Spiels, das nicht mehr darstellt und die Darstellung manchmal selbst zum Spiel macht, als „postdramatisches Theater“ bezeichnet. Aus seiner Schule, dem Studiengang für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, kommen auch vier Regisseure, die mit einem Projekt postdramatischen Theaters in die Sphäre der Politik eindringen wollten. Die vier Künstler des Theaterkollektivs „Rimini Protokoll“ wollen während des Festivals „Theater der Welt 2002“, das Ende Juni in Bonn stattfindet, eine Bundestagssitzung von Laiendarstellern im ehemaligen Bonner Plenarsaal nachspielen lassen. „Deutschland 2“ heißt das Projekt, bei dem jeder Darsteller Sätze, die in der Berliner Debatte fallen, mit ein paar Sekunden Verzögerung in Bonn nachsprechen soll. Es haben sich bereits viele Mitwirkende gemeldet, die meisten wollten Fischer spielen. Gegen diese Art der Theatralisierung von Politik hatte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse Einwände. Er sieht die Würde des Parlaments gefährdet und will den Theaterleuten den alten Bonner Plenarsaal nicht zur Verfügung stellen. Daraufhin hat der Bonner Intendant Manfred Beilharz sein Theater für „Deutschland 2“ angeboten. Die Aufführung wird also stattfinden, und dann wird man sehen können, dass das existierende Theater, das nicht nur repräsentiert, sondern die Repräsentation selbst zum Thema macht, vielleicht doch ein wenig komplizierter ist als das Theater, das sich Politiker vorstellen, wenn sie von Theater sprechen. Vor „Deutschland 2“ ist „Rimini Protokoll“ bereits in Hannover zu Gast. Beim Festival „Theaterformen“ zeigt die Gruppe vom 8. bis 14. Juni die Aktion „Sonde Hannover“.
Ronald Meyer-Arlt