Von Ulrich Seidler
14.03.2011 / Berliner Zeitung
In den nächsten zehn Jahren, so ein Experte, der am Wochenende die Katastrophe in Japan kommentierte, in den nächsten zehn Jahren wird es ein Megabeben in der Nähe der 13-Millionen-Metropole Istanbul geben. Ein Beben, das sehr viel verheerender sein wird als das im besser vorbereiteten Japan. Istanbul, die Stadt zwischen Asien und Europa, ist auf dem Spalt zwischen den Kontinentalplatten erbaut. Am Freitag im Hau2, bei der Berliner Premiere des im Oktober in Istanbul herausgekommenen und inzwischen schon herumgereisten Stücks der Dokumentar-Theatergruppe Rimini-Protokoll, gibt es einen Monitor, der die seismographischen Signale aus Istanbul und anderen türkischen Orten live einspielt. Die Kurve zittert, dazu spielen sie einen Grummel- und Knister-Sound ein: Es tut sich was. Die Platten driften - auf einem Globus, der mit ein paar anderen um eine Sonne eiert, die ihrerseits durch das Nichts torkelt.
Die Instabilität der Erdkruste ist den Riminis eine Metapher für die Fragilität aller Gleichgewichte, auf die wir uns verlassen, obgleich es eigentlich nicht einzusehen ist, warum sie nicht schon längst zusammengebrochen sind. Wenn sogar der als fest wahrgenommene Boden unter unseren Füßen eine schwankende Scholle auf blubbernder Lava ist, wieso bricht es nicht überall aus oder ein oder zusammen? Weltmärkte, Revolutionen, Verkehr, Epidemien, Radioaktivität, Ökosystem, Überbevölkerung, Kriminalität.
Das ist der äußerste der unzähligen Rahmen, mit denen die Riminis ihre Themen einkreisen. Das Zentrum von "Herr Dagaçar und die goldene Tektonik des Mülls" bilden fünf Männer, die die Theaterleute aus Istanbul eingeflogen haben: Abdullah Dagaçar, Aziz Idikurt und Mithat Içten, die sich aus ihrer anatolischen Heimat, wo es keine Arbeit gibt, regelmäßig nach Istanbul aufmachen, um im Abfall nach Wertstoffen zu suchen, die sie verkaufen können. In dieser Zeit wohnen sie in Verschlägen, die sie aus Müll zusammenbasteln. Der auf der asiatischen Seite Istanbuls geborene und bei den Großeltern aufgewachsene Roma Bayram Renklihava hat das Müll-Sammeln zum Lebensinhalt gemacht, er ist ein "Künstler" auf dem Gebiet, sagt er - und offenbar hat er für sich und seine Familie eine bescheidene, aber funktionierende Existenz aufgebaut. Das sind vier von tausenden, die täglich mit ihren mannshohen Sackkarren ausschwärmen, um Kunststoffe, Metalle, Papier aus dem zu picken, was andere weggeworfen haben.
Der fünfte im Bunde ist der Schattentheaterspieler Hasan Hüseyin Karabag, der die Geschichte der Schatzsucher in folkloristisch inspirierten Erzählungen des türkischen Kaspers Karagöz widerspiegelt. Das ist vielleicht die wichtigste Funktion des Theaters: der schwankenden Wirklichkeit einen narrativen Boden einziehen. Karabag hat es auch nach dem Erdbeben in Izmit 1999 versucht, bei Theater-Workshops mit traumatisierten Kindern, die verschüttet waren und aus Angst vor der Dunkelheit nicht wagten, die Augen zu schließen.
Damit sind wir bei dem Albtraum, den Renklihava zu Beginn des Abends erzählt und der die Motive schon anklingen lässt. Darin bricht ein Virus aus und tötet die Kinder der Welt, auch seine eigenen. Er verpackt sie in Müllsäcke und wirft sie weg.
Die Assoziationen des Abends sind hier noch lange nicht vollständig erfasst, aber die Metaebene darf nicht vergessen werden: Das sind die Theaterleute Helgard Haug und Daniel Wetzel aus der Schweiz, die die Protagonisten aus dem Gewimmel gepickt haben und samt Sackkarren durch den internationalen Theaterfestivalbetrieb schleusen. "Ob wir hier lebend wieder herauskommen?", hätten sich die beiden gefragt, bevor sie zum Müll-Depot gegangen sind, um Sammler zu casten. Dieser Eingriff der Theaterleute in den Alltag der Müllsammler ist durchaus mit einem kleinen biografischen Beben zu vergleichen. Das ging so weit, dass die Riminis die Sammelstelle einpacken und als Bühnenbild verwenden wollten - im Tausch boten sie einen fahrbaren Wohncontainer an. Die Sammler lehnten das ab.
Driften ist das Zauberwort dieses äußerlich ziemlich trockenen Abends, der einen erst beim Darüber-Nachdenken richtig einsaugt. Es driften die Kontinente, die Müllberge, die Migrantenströme - und es driftet die Wirklichkeit in die Vorstellung der Mythen und Träume. Ja, sogar die gedankliche Fügung des Abends nimmt das Zauberwort auf, indem sie - rimini-typisch und gewollt - abdriftet. Eingefangen werden die poetisierenden Abschweifungen von der Realität; heute im Bild der müllbeladenen Tsunamiwelle über Japan.