Von BIRGIT MÜLLER-BARDORFF
13.08.2023 / Augsburger Allgemeine
Für Helgard Haug und die fünf Spielerinnen und Spieler des Theater Hora löst diese Entscheidung Fragen und Überlegungen aus, und dass sie nicht einfach sein werden, das deutet sich schon vor Beginn der Aufführung an: Kringelige Spiralen, nicht Kreise sind es, die den in grüne Quadrate aufgeteilten Bühnenboden bedecken, und die von zwei Wischrobotern weggeputzt werden (Bühnenbild Laura Knüsel).
Immer wieder neue Fragen ergeben sich in dieser Inszenierung, die dabei nichts Lehrstückhaftes an sich hat, sondern durch atmosphärische Musik (Barbara Morgenstern) und stimmungsvolles Licht (Marc Jungreithmeier) zu einem intensiven sinnlichen Erlebnis wird. Die Bühne ist das Spielfeld für Brechts Charaktere. Achtmal wird darauf die Probe durchexerziert. Wie würde das Kind entscheiden? Wären nicht auch der Richter, die Musikerin oder der abwesende Soldat eine gute Mutter? Und schließlich auch: Was, wenn das Kind nicht gesund gewesen wäre, hätte sich die Magd auch dann seiner angenommen? Hätte die Fürstin es überhaupt bekommen? Darauf läuft die Inszenierung zu und macht die Besetzung mit beeinträchtigten Spielern schließlich zum schlüssigen Konzept. Dramaturgisch wird dies mit der Brecht ́schen Handlung verknüpft, wird die Vorgeschichte in kurzen Spielszenen aufgerufen, die, wie der ganze Abend, unterlegt werden durch das virtuose Spiel der Percussionistin Minhye Ko.
Das Ensemble mit Remo Beugert (Richter ), Robin Gilly (Kind), Simone Geisler (Grusche), Tiziana Pagliaro (Fürstin) und Simon Stuber (Soldat) spielt diese Versuchsanordnungen der Probe im Kreidekreis mit mitreißender Emphase, Humor und Unbefangenheit. Wie Sportler vor dem entscheidenden Wettbewerb, machen sich Geisler und Pagliaro warm für den Kampf ums Kind, dehnen die Glieder und lassen die Fingerknöchel knacken. In-Ear- Kopfhörer unterstützen alle Darsteller mit Anweisungen für die Texte in einfacher Sprache und den Ablauf des Bühnengeschehens.
Ihre eigene Lebensrealität und die Probenerfahrungen bringen die Hora-Spielerinnen dabei mit ein und setzen sie mit den Figuren und der Handlung des Stücks in Beziehung. "Warum wolltest du die Rolle spielen?" , "Möchtest du selbst auch einmal Kinder haben? ", will Remo Beugert, der neben seiner Richterrolle das Stück als eine Art Conferencier in den verschiedenen Ebenen großartig zusammenhält, von seine Mitspielenden wissen, und er öffnet damit den Raum für neue Perspektiven und Überlegungen.
Die persönlichen Sichtweisen der Darsteller und Darstellerinnen werden Teil des Stücks. Sie treten aus ihren Rollen, sprechen von sich, kommentieren und lassen so die Grenzen zwischen Brechts Figuren und der eigenen Person, zwischen Theater und Leben ineinanderfließen. Die Distanz zwischen Bühne und Publikum durchbrechen sie mit kleinen Büchern, die verteilt werden und die die Zuschauerinnen und Zuschauer studieren können, darin Fotografien und Geschichten aus der eigenen Kindheit. Welches Verhältnis man zu behinderten Menschen hat, aber auch darüber, wie eigenständig das Leben ist, das man ihnen zugesteht, auch diese Fragen wirft diese beeindruckende Inszenierung auf. Antworten darauf muss sich – ganz im Sinne Brechts – jeder Zuschauer und jede Zuschauerin selbst geben.
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