Von Doris Meierhenrich
03.03.2019 / berliner-zeitung.de
Ab 8. März läuft im Haus der Berliner Festspiele die Performance „Uncanny Valley“, die Stefan Kaegi von Rimini Protokoll zusammen mit dem Schriftsteller Thomas Melle im vergangenen Sommer für die Münchner Kammerspiele produzierten. Es ist ein Theaterabend, an dem es zunächst scheint, als wolle der Schriftsteller Melle einen Vortrag über das Problem der „Stetigkeit“ halten und über das aus der Robotik bekannte Phänomen des „Uncanny Valley“, des „unheimlichen Tals“. Doch bald wird klar: Nicht Thomas Melle sitzt dort auf der Bühne, sondern ein ihm nachgebildeter „animatronischer Roboter“.
Der „echte“ Melle gibt seinem maschinellen Stellvertreter nur noch die Stimme, eingespielt vom Band. Später tritt er zwar in Videos noch auf, doch bleibt er in gespenstischer Weise anwesend abwesend. Ähnliches beschreibt das „Uncanny Valley“: die Lücke zwischen Mensch und seinem maschinellen Humanoid, deren Ähnlichkeit und Fremdheit zugleich unheimlich ist. Mit Verweis auf das Verschwinden des Menschen hinter sein Double mochte Thomas Melle auch kein persönliches Interview mehr geben. Zum Glück aber gibt ja es nun die Maschinen zum Fernaustausch, hier per E-Mail.
Herr Melle, bei den Proben nannte man den Melle-Roboter irgendwann einfach „Melle2“, Sie „Melle1“. Mit wem spreche ich jetzt: 1 oder 2?
Mit dem Original. Wobei auch die Kopie denkt, sie sei das Original. Und schon bin ich unsicher.
Ist das Sprechen durch die Zwischenschaltung einer Maschine genauer, inhaltlicher? Oder nicht viel unkontrollierbarer, weil die Möglichkeit des Missverständnisses, der semantischen Verschiebung wächst?
Diese Frage stürzt mich gleich in philosophische Abgründe. Deshalb, ganz simpel: Ich finde, beides ist hochmissverständlich aus je verschiedenen Gründen, aber dennoch verstehen wir uns alles in allem immer wieder ganz gut. Zwinkersmiley!
In dem Vortragsabend kommen Sie − oder Ihr Stellvertreter? − sehr bald auf die manisch-depressive Erkrankung zu sprechen, über die Sie 2016 das Buch „Die Welt im Rücken“ schrieben. Grob gesagt, erzählt es die wechselhafte Leidensgeschichte des Kontrollverlusts und der Rückgewinnung der Kontrolle über sich selbst. Später wurde es auch als Burgtheatersolo des Schauspielers Joachim Meyerhoff ein großer Erfolg. In „Uncanny Valley“ gibt der kühle Melle-Roboter nun einen kleinen Seitenhieb gegen den sich schweißtreibend einfühlenden Verwandlungskünstler.
Das ist kein Seitenhieb gegen den Meyerhoff-Abend, und der Text kommt auch nicht nur von mir, sondern auch von Stefan Kaegi. Was der Roboter da sendet, ist ja selbst schon ein Hybrid, kein originärer literarischer Text eines einzigen Autors. Dass der Roboter so schnell und schon wieder auf meine Krankheit zu sprechen kommt, ist Teil der Setzung: Ich möchte gegen die Diskontinuität, die diese Krankheit mit sich bringt, endlich eine Kontinuität setzen, und sei es um den Preis, dass ich selbst verschwinde. Eigentlich wollte ich zu dem ganzen verdammten Krankheitskomplex gar nichts mehr sagen, aber Stefan Kaegi ist geschickt und auf sehr sanfte Weise hartnäckig, und die Setzung ist ja auch sinnvoll.
Es sind zumindest zwei sehr konträre Stellvertreterabende. Der Melle-Roboter sagt, es gehe ihm weder um große Repräsentationskunst noch um einen „echten“ Authentizitätsbericht. Worum geht es also?
Ich würde sagen, um Identität, Repräsentation und die Frage, was passiert, wenn ein Mensch ersetzt wird und alle Unregelmäßigkeiten ausgeschlossen werden. Und ob andersrum Roboter vom Menschsein träumen. Und ja: Der Roboter soll Verwirrung stiften in Sachen Authentizität, er ist eine der vielen Gegenbewegungen zum „schonungslosen Bekenntnis“, das ich mit „Die Welt im Rücken“ abgeliefert habe. Am Ende ist alles, was erschaffen wird am Theater oder in der Literatur, hochartifiziell und bloß hergestellt. Wieso also die Herstellung nicht einmal radikal durchziehen und ausstellen?
Was kann der maschinelle Humanoid besser als der einfühlende Schauspieler oder das menschliche Original?
Fortbestehen und zuverlässig immer wieder dieselben Prozesse vorführen, unbeeindruckt von allem sein mildes Ding durchziehen. Ansonsten muss er nicht mehr können als wir. Seine bloße Existenz, die Tatsache, dass er da ist, darin steckt schon die entscheidende Frage, und die könnte kein Original und kein Schauspieler stellen.
Im Stück sagt Melle2: „Was der Roboter für mich (Melle1) ist, ist das Theater für Sie (die Zuschauer)“. Meint also die Distanz, den Reflexions- auch Schutzraum: Das Theater als kontrollierte, kontrollierbare Licht- und Zeigemaschine. Was ist mit seiner Stiefschwestern-Funktion, Überschreitungsraum zu sein, zu irritieren, Pestviren zu verbreiten?
Diese Funktion wird an diesem Abend nicht erfüllt, oder die Irritation ist eine ganz andere, auch eine aus einer ganz anderen, eher erkenntnistheoretischen Kategorie. Überhaupt ist die Erwartung, auch Forderung ans Theater, stets aufzuwühlen, Unruhe zu stiften, der Reißzahn irgendwodrin zu sein, völlig klischiert und eigentlich kulinarisch. Der Zuschauer holt sich seine Dosis an kulinarischer Katharsis ab, und da der ganze Wirkungszusammenhang so erwartbar und ausgelutscht ist, funktioniert diese Apotheke eigentlich nicht mehr. Man muss andere Wege der Repräsentation finden, wenn man denn überhaupt Repräsentation will, die ja einen Hang zur Konsolidierung gängiger Perspektiven hat. Dieser Abend ist eine andere Form von Repräsentation, die Identität erst behauptet und dann zerstört.
Im Stück demonstriert der Melle-Roboter, wie sehr Technik und Kunst einander gleichen, indem sie Defekte, Störungen der Natur zu beherrschen suchen. Immer geht es dabei nur um die Maschine Mensch. Was ist mit der Gesellschafts-Maschine drumherum?
Für mich ist die Gesellschaft keine Maschine. Zwinkersmiley!
Im Stück heißt es, dass wir Zuschauer darunter litten, das einzige unregelmäßige, zufällige Moment dieses Abends zu sein, weil wir unsere Algorithmen immer neu ausrichten müssten. Ich persönlich hielte das eher für ein Glück des Abends.
Das stimmt auch. Unterm Strich ist der Abend eine einzige Feier der Irregularität, der Abweichung, des Fehlers, des Fehlers an sich, des Fehlers als Öffnung hin zur Freiheit und zum einzelnen Individuum. Die tragische Alan-Turing-Geschichte, die da parallel miterzählt wird, dreht sich genau darum: um die Abweichung, die Veränderungen am Normalen erst möglich macht.
Wann wird das „Stete“, Berechenbare, das die beiden Melles suchen, Ihnen selbst zu viel?
Ich (falls ich das Original bin) habe mit dem Abend ja wirklich nichts mehr zu tun. Der läuft selbsttätig und maschinell weiter in München, Moskau, Mailand, und ich denke, der Roboter kriegt davon einfach nicht genug, will mehr vom Selben und Stetigen, auch wenn er selbst, wie mir erzählt wurde, die Schönheit des Fehlers entdeckt hat und bereits einmal komplett ausgefallen ist. Mir persönlich wird Stetigkeit und Gleichmaß im Leben nie zu viel, im Gegenteil, das ist ja lange Zeit mein Problem gewesen, dass es da dauernd Disruptionen gab, dass es völlig unstet war. Stetigkeit ist mir im Leben Sehnsucht, in der Kunst aber Horror. Gerade am Theater wird mir das Maschinelle und Immergleiche schnell zu viel. Es gibt ja wahre Theatermaschinen, die machen ständig dasselbe, es kommen unten nur minimale Variationen raus, weil oben andere Themen reingeworfen wurden, aber im Grunde machen sie immer dasselbe, und ich verstehe überhaupt nicht, was das soll und wie man das als Macherin und Macher auch selbst aushält. Kommt das, weil einem nichts anderes einfällt, oder wollen die eine „Marke“ sein, oder ist das Serielle der Reiz? Von daher vielleicht witzig, in diese Maschinenwelt nun selbst eine echte Maschine hineingeschickt zu haben, die wirklich immer nur dasselbe macht.
Wie sieht das Land jenseits des „Uncanny Valley“ aus, also jenseits der irgendwann mal geschlossenen Lücke zwischen Maschine und Mensch: Horrorkabinett oder Paradies?
Weiß ich nicht, aber ich würde mir statt eines Horrorszenarios lieber ein cremefarbenes Paradies vorstellen wollen, ein sediertes Biedermeier, alle weg und happy. Das Video dazu wäre „All is full of love“ von Chris Cunningham und Björk.