Von Burkhard Maus
02.07.2017 / www.menschmaus.eu
100 % Marseille – Rimini Protokoll – oder Gewissensfragen und noch mehr ….
Unter Rimini Protokoll firmieren seit 2000 Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel. Die drei Kunstschaffenden widmen sich verschiedenen Genres der Kunst wie Film, Hörspiel, Installation und Theater. Die Drei forschen und realisieren neue Formen des Theaters, auch als Medium. Für ihr Gesamtwerk ehrte das Festival del Teatro della Biennale di Venezia 2011 http://www.labiennale.org/it/teatro Haug, Kaegi und Wetzel mit dem silbernen Löwen.
Und nun in Marseille, der südlichen Kunstmetropole Frankreichs….
Nur drei Tage gastierte Rimini Protokoll im La Criée www.theatre-lacriee.com, dem Theater am Hafens. 100 % Marseille gibt die Antworten, auf erhobene Sozialdaten. Statistiken, deren Resultate in der Realität nicht selten zu Irritationen führen, gar berechtigte massive Zweifel ob der Glaubwürdigkeit zulassen oder deren Erhebungen von Gefälligkeiten gegenüber den Auftraggebern bestimmt sind. Rimini Protokoll engagierte in Marseille lebende als Schauspielerinnen und Schauspieler – ambitionierte Laien – nach bestimmten Kriterien wie Geschlecht, Alter wie Kinder bis 10 Jahre und solche zwischen 11 bis 17, junge Erwachsene ab 18 bis 39, Erwachsene 40 – 60 und Senioren (65 -80 Jahre), von ihnen waren 81 % gebürtige aus Frankreich – 19 % aus dem Ausland stammend.Differenziert wurden auch nach Herkunftsregionen Europe du Nord 1%, Europe du Sud 2 %, Afrique du Nord 9 % und Afrique Subsaharienne 5 %. Unterschieden wurde nach Arrondissement von Marseille (Quatiers Nord = 19 %, -Est – 28%, Centre Ville 34 % und -Sud 20%). Zu structure familiale ergaben sich aus den 100 Artistinnen und Artisten folgendes Bild: Enfants d’un couple 20%, Enfants d’ une familie monoparentale 10%, Adultes vivant seuls 19%, Adultes vivant en colocation hors familie 5%, Adultes vivant en couple sans enfant(s) 19%, Adultes vivant en couple avec enfant(s) 21 % und Adultes d’une familie monoparentale 6%.
Rimini Protokoll entwickelte – assoziativ zu nicht selten fragwürdigen statistischen Erhebungen – Fragenkomplexe zu Gesundheit, Sexualität, sozialer Kompetenz, Kriminalität und Politik. Die Darstellende Personen gaben hierzu ihre Antworten, beschrieben in kurzen Sätzen ihre sehr persönlichen Situation. Fragen, die entweder ein Individuum charakterisierten, Fragen, unter denen sich Gruppen fanden. Das Theaterstück, nur wenige Male (4) vor Ort geprobt, steckte voller Dramaturgie. Und die Fragen etwa nach der Gesundheit (schwere Erkrankungen / Krebs, Lebenserwartungen), psychisches Leid (Suicidversuche), Kriminalität (Gewalttätigkeit, Gefängnisaufenthalte), Politik (Teilnahme an Wahlen, Rassismus), persönliche Verhältnisse (Partnerin- / Partnersuche, ökonomische Situation, Wohnverhältnisse) oder …“Wer hat schon einmal ein Leben gerettet“, als weltweite Referenz? Durchaus. Lebensnah und lebensbejahend.
Mehr als ein Experiment
Mit diesem realistischen Schauspiel, das die Statistik mit Leben füllt, ihr Gesicht und Stimme geben, werden anhand der Parameter erstaunlicherweise soziale Brücken gebaut, Gemeinsamkeiten entwickelt, Solidarität gezeigt, ob zwischen jungen und älteren oder auch Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Das Stück 100 % Marseille ähnlich bereits in einigen ausländischen Städten aufgeführt, soll demnächst seinen Auftritt in Sankt Petersburg haben. Das Rimini Protokoll initiiert mit diesem wundervollen Theaterstück gleich mehrere bedeutende soziale Impulse: Solidarität und Integrität. Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel vermitteln – ohne zu belehren – Sichtweisen auf Mit-Menschen, deren Schicksale, appellieren als message dissimulé an Sozialverhalten und fordern subtil zu Umsichtigkeit im Leben, Kritikfähigkeit gegenüber herrschenden Verhältnissen auf. Das Hinterfragen von Statistiken und deren Zweck samt Zielsetzungen führt zu Antworten – meistens ohne Konsequenzen. Rimini Protokoll könnte motivieren, das zu ändern ….
Weitere Stationen: Taipei, Kaohsiung, Hong Kong, Gold Coast