05.10.2011 / Pforzheimer Zeitung
Die fünfjährige Greta kommt mit ihrem Teddybären, der 46-jährige Stefan Hager hat seine Angel dabei. Sie gehören zu den 100 ausgewählten Bürgern, die Karlsruhe verkörpern sollen.
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Die Hundertschaft nimmt auf dem Außenrand der Drehbühne im Badischen Staatstheater Stellung. Einer nach dem anderen fährt an dem Mikrofon vorbei und nutzt den kurzen Moment für ein, zwei Sätze, um sich vorzustellen.
„100 Prozent Karlsruhe“ heißt das Stück, das am Staatstheater uraufgeführt und ein weiteres Mal gespielt wurde. Das Berliner Regie-Trio „Rimini Protokoll“ hat auf Einladung des neuen Intendanten Peter Spuhler ein bewährtes Konzept auf die Fächerstadt umgewidmet. Mit den Stücken „100 Prozent Berlin“ und „100 Prozent Wien“ haben sie ihre Art Bürgertheater erfolgreich umgesetzt. Ausgangspunkt ist die Statistik. Sie gibt vor, wie viele Menschen welchen Geschlechts, welchen Alters und aus welchen Stadtteilen am Ende auf der Bühne stehen werden. In diesen Grenzen erfolgt die Auswahl dann nach einer Art Mundpropaganda. In Karlsruhe brachte Karin Hörner den Ball ins Rollen: Frau, 56 Jahre, geschieden, aus Rüppurr. Die Mitarbeiterin des Bundesverfassungsgerichts fragte ihre Enkelin, die wiederum den Nachbarn ihrer Oma vorschlug, der eine Kollegin ins Spiel brachte – und so weiter.
„Ich habe mitgemacht“, sagt die 87 Jahre alte Emma Schweiß als Nummer 100, „weil mir Massimo Ferrini etwas versprochen hat.“ Was? „Einen Kuss.“ Darauf kommt der Mann von Stelle 98 zu ihr und drückt ihr ein Bussi auf die Wange. Dann beginnt das Spiel. Fragen werden gestellt und die statistische Menge teilt sich auf in die Felder Ja und Nein. „Sind Sie für Präimplantationsmedizin?“, „Sollen Behinderte gemeinsam mit Nicht-Behinderten unterrichtet werden?“. Es gibt nur Schwarz oder Weiß, kein Vielleicht, keine Enthaltung. Die Fragen sind den Menschen auf der Bühne neu, damit sie spontan, intuitiv reagieren.
„Bei den Ergebnissen kommen wir ziemlich nahe an das heran, was auch bei repräsentativen Umfragen heraus kommt“, sagt Regisseur Daniel Wetzel. „Nur bei uns bekommt die Statistik ein Gesicht.“ Im Theater können die Besucher die Einzelnen beobachten, wie sie zwischen Nein und Ja hin- und herpendeln. Und manchmal sind die Wege überraschend. Etwa als auf die Frage „Würden Sie jemanden töten, um Ihre Familie zu retten?“ als Nächstes folgt „Würden Sie eher sich selbst opfern, als einen Menschen zu töten?“. Da herrscht kurz Verwirrung auf der Bühne. Kann man darauf beides mal mit Ja antworten?