Spiegelneuronen

Ein dokumentarischer Tanzabend mit Publikum

Von Stefan Kaegi / Sasha Waltz & Guests

Dieses Stück ist ein Experiment. In jeder Aufführung von neuem. Es geht um das menschliche Gehirn und sein Verhältnis zum Körper. Das Publikum ist ein wesentlicher Teil des Experiments, denn es ist eingeladen, nicht nur Tanz zu beobachten, sondern sich auch selbst zu bewegen, von seinem Sitzplatz aus als aktiver Teil eines gemeinsamen Systems zu agieren, sich selbst als Teil einer Art großen Gehirns zu erleben.

Spiegelneuronen ist die erste Zusammenarbeit mit Sasha Waltz & Guests. Damit setzt die Tanzcompagnie die Öffnung für neue Handschriften sowie ihr Interesse an künstlerischer Recherche und genreübergreifender Zusammenarbeit mit internationalen Künstler*innen zur Erweiterung ihres Repertoires fort. Aus sehr unterschiedlichen Richtungen kommend, interessieren sich beide Compagnien für die ungewöhnliche Bespielung von Räumen sowie die interdisziplinäre Arbeit. Nun untersucht Stefan Kaegi gemeinsam mit Tänzer*innen von Sasha Waltz & Guests sowie dem Publikum das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft mit den Mitteln des Tanzes vor einem großen Spiegel.

Spiegel haben in Ballettproberäumen eine lange Tradition. Historisch hatten sie dort vor allem eine normative Funktion, dienten sie doch der Perfektionierung des Corps de Ballet, einem durch Disziplin und Drill synchronisierten Gesamtkörper aus einem ganzen Chor von Tänzer*innen. Kein Wunder, dass dieser Spiegel parallel zum Aufstieg des Individuums und der subjektiven Freiheit im modernen und zeitgenössischen Tanz an Bedeutung verlor. Dieser dokumentarische Tanzabend richtet den Spiegel nun auf das Publikum und bezieht es als Subjekt der Betrachtung ins Experiment mit ein.

Ein Spiegel wird da installiert, wo normalerweise die Bühne ist. Er reflektiert nicht nur die Tänzer*innen, sondern wie ein gigantisches Selfie die ganze Tribüne mitsamt dem Publikum. So wird, ähnlich wie bei Aktionen des Performancekünstlers Dan Graham in den 1970er-Jahren, der Zuschauerraum zum Hauptaktionsort. Das Publikum rückt im Austausch mit den Tänzer*innen selbst ins Zentrum der choreografischen Bewegungen und erlebt sich beim „Verkörpern“ von komplexen Bildern.

Neurowissenschaftler*innen gehen davon aus, dass unser Nervensystem nicht zentral gesteuert ist, sondern dass die verschiedenen Bereiche des Gehirns intensiv miteinander kommunizieren: vergleichbar einem Computernetzwerk mit Algorithmen, die nicht linear, sondern dezentral agieren und auf ihren Kontext reagieren, während sie Informationen sammeln und prozessieren. Wie genau das geschieht, darüber kann auch die Wissenschaft bisher nur spekulieren. Immer wieder werden neue Mechanismen entdeckt. Anfang der 1990er-Jahre zum Beispiel die Spiegelneuronen: Diese führen dazu, dass das Gehirn in ähnlicher Weise angeregt wird, egal ob wir selbst etwas tun oder dieselbe Handlung bei einer anderen Person beobachten. Obwohl beim Menschen schwer nachzuweisen, könnten Spiegelneuronen einen Schlüssel zur Erklärung von Empathie und gegenseitigem Verstehen darstellen.

Die dokumentarische Recherche zu diesem Tanzabend bezieht Konzepte aus Hirnforschung, Biologie, Soziologie und künstlicher Intelligenz ein, die das Publikum einerseits hört und reflektiert und andererseits erlebt, nachvollzieht – vielleicht sogar antizipiert oder versucht, sich ihnen zu entziehen. Und zwar ganz konkret am eigenen Körper und als große Gemeinschaft im Publikum. Über den Spiegel betrachten die Zuschauer*innen sich und die anderen beim Beobachten des Versuchs, in dessen Zentrum sie sitzen.

Modellhaft lässt sich mittels Bewegungsimpulsen eine Gruppe von Menschen auf einer Tribüne ähnlich vernetzen wie ein Gehirn. Vertont wird dieses bewegte Bild durch ein Musikarrangement mit O-Ton-Einspielungen von Wahrnehmungsforscher*innen. In der Wahrnehmung des Publikums verwebt sich die Szenerie mit deren Gedanken, illustriert oder konterkariert sie, vervollständigt oder widerlegt sie. Jeden Abend anders.

ORF Beitrag zum Nachhören (Ö1 Mittagsjournal, 14.8.2024)

Konzept und Regie: Stefan Kaegi
Musik: Tobias Koch
Bühne: Dominic Huber
Video: Mikko Gaestel
Dramaturgie: Silke Bake
Tänzer*innen: Melissa Kieffer, Dominique McDougal, Francisco Martínez Miranda, Orlando Rodriguez, László Sandig, Wibke Storkan
 
Mit den Stimmen von: 
Christina von Braun, emeritierte Professorin , Autorin, Filmemacherin, Initiatorin  des Studiengangs Gender Studies an der Humboldt Universität zu Berlin, Mitbegründerin des Selma Stern Zentrums Jüdische Studien.
John Dylan-Haynes, Professor für Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale am Bernstein Center for Computational Neuroscience und Berlin Center for Advanced Neuroimaging Charité / Humboldt-Universität. 
Sarah Karim, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Rehabilitationswissenschaften.
Tim Landgraf, Professor am Institut für Informatik der Freien Universität Berlin sowie Gründer und Leiter des Biorobotiklabors am Dahlem Center for Machine Learning and Robotics. Nora Schultz, Wissenschaftliche Referentin Deutscher Ethikrat, freie Wissenschaftsjournalistin.Prof. Dr. Tania Singer, wissenschaftliche Leiterin des Social Neuroscience Lab der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin. Gründerin und Leiterin des ReSource Projekts.
 
Eine Produktion von Sasha Waltz & Guests in Zusammenarbeit mit Rimini Protokoll.
Eine Koproduktion mit den Salzburger Festspielen, Tanz Köln, Kampnagel - Internationales Zentrum für Schönere Künste