Grenzergespräch
»Ich kann Herrn Kathert nicht spielen«. Ein Gespräch über die Rolle als Grenzsoldat der DDR.
Am 2.11.2009 fand nach zwei Aufführungen in Dresden die tschechische Premiere von Vung Bien Gioi in Prag statt. Karl-Heinz Kathert war terminlich verhindert. Das Staatsschauspiel Dresden empfahl sein langjähriges Emsenmblemitglied Günter Kurze zur Vertretung. Kurze kam am Vortag, hatte sich mit dem Stück anhand eines Videos und des Manuskripts vertraut gemacht und stand für diese eine Aufführung anstelle von Kathert auf der Bühne. Am 14.12. besuchte er eine Vorstellung im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden. Das Gespräch im Anschluss an die Aufführung wurde begleitet von Sebastian Brünger, Ulrike Linzer und Daniel Wetzel, der die Abschrift des Tonbandes auf ein Viertel des Umfangs zusammengefasst hat.
DIE ROLLEN
Rimini Protokoll: Günter, spielst ja gerade vor allem in »A Christmas Carol«
Kurze: Wir hatten gerade die 160. Aufführung. Die Leute jubeln. Ich glaube, sie gehen zu Weihnachten in die Kirche und zu »A Christmas Carol«. Wenn denen jemand ein Programmheft verkaufen will, dann sagen die: Brauchen wir nicht, wir waren schon fünf Mal da. Der Aufführungs-Ort ist eines der schönsten Barockschlösser überhaupt. Und dann ist der Saal nur in einer Ecke restauriert, ansonsten rohes Gemäuer. Und das Licht! Fantastisch! Wir laufen in historischen Kostümen herum, singen englische Weihnachtslieder, und ein Böser wird gut. Das ist die Illusion, und der Traum von Weihnachten.
Rimini Protokoll: Wer bist denn Du?
Kurze: Ich spiele den vom Hausherrn geknechteten Buchhalter, der die Weihnachtsgeschichte vorliest. Ich bin das arme Schwein in dieser Runde.
Rimini Protokoll: Machst Du eine Wandlung durch?
Kurze: Ich nicht, aber der geläuterte Böse ist dann auch gut zu mir. Wenn dann der Chef mit dem Geknechteten Brüderschaft trinkt, dann bleibt kein Auge trocken.
Rimini Protokoll: Karl-Heinz, was ist Deine Rolle?
Kathert: Ich versuche, auf der Bühne zu verkörpern – meine reichhaltigen Erfahrungen sowohl während meines langjährigen Dienstes bei den Grenzsicherungsorganen der DDR und zum zweiten meine langjährigen Erfahrungen als Hauptbetreuer von circa 1000 Vietnamesen in der hiesigen Leichtindustrie. Was den ersten Teil anbetrifft, musste ich mich natürlich erst einmal selbst befragen: Kannst du als Oberst a.D es mitverantworten, hier in diesem Stück mitzuwirken, weil ja der Zeitgeist über das Grenzregime in der DDR, über die Handlung der Grenztruppen der DDR viele Dinge verbreitet, denen ich persönlich aufgrund meiner Erfahrung nicht zustimme.
Dann habe ich mich bereit erklärt, gewissermaßen im Telegrammstil deutlich zu machen: wie war das 1949 an der damaligen Demarkationslinie...
Rimini Protokoll: Was heißt das, wenn Du sagst, Du »verkörperst« das?
Kathert: Ich musste mich ja sofort, als ich 1949 den Auftrag bei der damaligen Grenzpolizei bekam, mit dieser neuen Situation auseinandersetzen – letztlich aus der Großstadt Magdeburg als Schutzpolizist kommend, über einen Bereich die Verantwortung zu tragen, wo es nur Wälder und Felder gab und Leute, die von A nach B passieren wollten – »Kleiner Grenzverkehr«.
Rimini Protokoll: Hat das für Dich was mit Theater zu tun, der Dienst am Grenzregime?
Kathert: Nein…. nein, an Theater habe ich damals überhaupt nicht gedacht.
Kurze: Aber die großen Armeeparaden sind doch ganz großes Theater!
Kathert: Vorsicht! Wir sind bei 1949.
Rimini Protokoll: Du gingst als unterster Dienstgrad weg von Magdeburg und kamst zurück als jemand anderes, und die Kollegen sind plötzlich aufgestanden. Das heißt, etwas hat sich ja an Dir geändert, was Deine Rolle anging.
Kathert: Natürlich, plötzlich war ich nicht mehr Untergebener sondern Vorgesetzter. Das war für mich natürlich ein unvorstellbarer Sprung: Jetzt trägst du Verantwortung für nicht nur 36 Grenzpolizisten, sondern für alles, was in deinem Abschnitt passiert.
Rimini Protokoll: Ordnung Herstellen heißt auch Ordnung Zeigen. Sie wird an der Grenze über Zeichen hergestellt, vor allem mit einer Linie…
Kathert: Ja, die bestand in der Demarkationslinie und darin, zu überwachen, dass es keine unkontrollierten Überschreitungen dieser Linie gab.
KARL-HEINZ KATHERT IST KEINE ROLLE
Rimini Protokoll: Heute geht es uns nicht darum, in die Themen deiner Biografie einzutauchen, sondern um zwei unterschiedliche Auftritte mit dem gleichen Text, deinem »originalen« Auftritt und dem des Schauspielers Günter Kurze mit deinem Text. Günter, wie nennst Du das, »Vertretung«?
Kurze: Also bei mir fing das ja an, wie das üblicherweise beim Theater anfängt: Einer fällt aus, aus irgendwelchen Gründen, und der Vorhang muss hochgehen, also übernimmt das ein anderer, in dem Falle ich.
Rimini Protokoll: Das ist manchmal auch eine Chance.
Kurze: … manchmal ist es auch eine Chance, da kriegst du Rollen, die du sonst nirgendwo kriegst und dann hört man: Huch, der kann das ja auch. Das ist jetzt in dem Fall nicht so. Ich meine, es gibt da gar keine Rolle, sondern Biografie. Euer Prinzip ist ja im Grunde wie beim Dokumentarfilm: Der, der da steht und etwas sagt, der isses irgendwie auch.
Kathert: Für mich war ja wichtig, dass ich auch die Möglichkeit hatte, meine eigenen Erfahrungen darzustellen und nicht irgendwas vortragen zu müssen, was man mir vorgegeben hat.
Rimini Protokoll: Das war dein Privileg, im Gegensatz zu Günter, er hat am Vortag als Text bekommen, was Du als – wenn auch sehr knappe – Variante dessen, was Du sagen willst im Gedächtnis hast.
Kathert: Alles, was ich dort sage und ausdrücke, da stehe ich mit meiner ganzen Erfahrung, mit meiner ganzen Person dahinter.
Kurze: Ich habe mal für so ein Arbeitertheater gearbeitet, und mir sind Vietnamesen auch mal über den Weg gelaufen, aber eigentlich kenne ich nur diese Propaganda-Sachen aus der Wochenschau. Und ich fand das unheimlich spannend, was diese Leute für Geschichten erzählen, was die für Biografien haben. Aus so einer Überschrift treten plötzlich Leute hervor, das find ich spannend an dieser Art Theater.
Rimini Protokoll: Günter, Du hast Karl-Heinzheute mit dem gleichen Text auf der Bühne gesehen. Hat dich was überrascht?
Kurze: Überrascht hat er mich nicht, ich hatte es ja schon mal auf einem Video gesehen, das ich zugeschickt bekommen habe, um mich vorzubereiten. Das war aber so eine Aufnahme von ganz weit weg, da habe ich ihn nicht wirklich gut gesehen. Aber seine Wirkung besteht in der Authentizität, denke ich. Er ist er. Das bestimmt seinen Gestus, seine Haltung und sein Sprechen.
Rimini Protokoll: Also, dass er »ich« sagt.
Kurze: Er ist ja ich.
Rimini Protokoll: Ja gut, aber der Schauspieler Günter Kurze hat auch »ich« gesagt.
Kurze: Ja, aber deshalb haben wir doch für mich auf der Bühne die Formel gefunden: »Herr Kathert sagt...«. – Na gut, so ein bisschen Spiel kommt da dann immer mit rein, ich habe so ein bisserl versucht, diesen Duktus zu treffen, diesen Offiziers-, Funktionärsduktus, was ich so im Ohr hatte, aber auch nur ein bisschen, weil ich denke, das geht eigentlich nicht, das kannst du jetzt nicht spielen. Das ist so wie es ist und da ist auch kein Raum für Spiel, auch kein Raum – was ja leicht möglich wäre – für Ironie. Aber wo ich ein bisschen gespielt habe, ging es immer auch darum, deutlich zu zeigen: Hier wird etwas vorgeführt.
Rimini Protokoll: Mit der Künstlichkeit, mit der ein Grenzbeamter das Zugabteil öffnet und...
Kurze:..ja, wenn Kathert »Passkontrolle!« ruft…. Ich wusste schon, wie das so klingen mag und dann hab ich auch gerufen »Passkontrolle!«. Aber ich habe versucht zu zitieren, wie einer klingt, der Grenzer war und »Passkontrolle!« ruft. Ich kann's doch nicht selber machen, ich bin's doch nicht! In der Situation kann ich im Grunde nur hinter dem Text zurück treten, kann den als Information liefern und dann Ich würde diesen Text so sehen, wie er ist, als Information und der Zuschauer soll wertend mit der Sache umgehen.
GÜNTER KURZE AN DER GRENZE
Rimini Protokoll: Zu deiner Vorgeschichte: Was hast Du in Prag über Dich gesagt?
Kurze: Ihr wolltet so einen autobiographischen Einstieg - und da habe gesagt, dass ich auch mal bei der Armee gewesen bin, Dienst getan habe an der Grenze und dass ich es aber nur bis zum Gefreiten gebracht habe. Ich hab also meine kleine bescheidene Armeevergangenheit herbeizitiert: »ich war da auch mal.«
Rimini Protokoll: Das war für uns eine Chance, an zunächst mal einer reinen Notlösung und einem Experiment, dass ein Schauspieler einen Experten vertritt, etwas zu finden, was darüberhinaus etwas über Katherts Position im Stück erzählt, wie er es selbst nicht könnte Ihr hattet gemeinsam, an der Grenze gedient zu haben. Allerdings: Du warst an der Berliner Mauer, wann war das genau?
Kurze: Moment, ich bin 1969 nach Dresden gekommen, bei den Grenztruppen war ich davor. – Ich hatte immer gehofft, ich komme drum rum. Ich war in der Oberschule, Abitur, Beruf, dann habe ich studiert, da konnten sie mich auch nicht zur Armee einziehen, dann war ich in Parchim am Theater, und dachte, die hätten mich vergessen. Da haben sie mich ganz zum Schluss, so mit 25 erwischt, die Altersgrenze lag bei 26.
Ich war damals an der Berliner Mauer und hatte das große Glück, dass ich in die Schreibstube kam und so gut wie nie ernsthaft an der Mauer Dienst tun musste. Hatte dann 1968 eine schlimme Zeit, als der Prager Frühling war, da sind wir eingezogen worden und haben im Wald gelegen. Wir wussten nicht, ob wir am nächsten Tag nach Prag einmarschieren mussten. Keiner von uns wusste, was passieren würde. Da war Nachrichtensperre, wir durften keine Briefe schreiben.
Kathert: Du warst nicht bei der Armee.
Kurze: Bei den Grenztruppen.
Kathert: Das ist ein Riesenunterschied!
Kurze: Der war mir aber wurscht.
Kathert: Das ist mir aber nicht wurscht. Die Grenztruppen der DDR, die waren selbständig, die gehörten nicht zur Armee. Also, wenn Du sagst, ich habe bei den Grenztruppen gedient, dann ist das richtig. Wenn Du sagst, ich habe bei der Armee gedient, ist das falsch.
Kurze: Das mag historisch richtig sein, aber ist doch für den Einzelnen von keiner Bedeutung.
Kathert: Vorsicht!
Kurze: Ich hab doch dort nur meine Grundausbildung gemacht. Ich hab doch von der Armee nur verstanden, was dort mit mir geschieht. Mir ist das doch alles nur geschehen! Panzer hab ich Gott sei Dank nie gesehen, Gefechte hab ich nie erlebt. Aber in der Prag-Zeit fühlte sich das fast an wie Krieg. Es ist ja gar nicht auszudenken, was da hätte passieren können.
BEINAHE HÄTTEN SICH UNSERE WEGE GEKREUZT
Kathert: Du bist eigentlich kein richtiger Grenzer gewesen.
Kurze: Nee, Schreibstubenhengst und das war wahrscheinlich das größte Glück meines Lebens.
Kathert: Glaub ich dir, glaub ich dir. Da hab ich dir sehr aufmerksam zugehört. Denn ich hatte ja als Stellvertreter des Brigadekommandeurs auch einen persönlichen Kraftfahrer
Kurze: Das war auch ein beliebter Job.
Kathert: Und ich hatte auch einen Schreiber. Und wenn das Schicksal es gewollt hätte, wärst Du nicht in Berlin gelandet, sondern bei mir in der Brigade, in Rudolstadt.
Kurze: Das hab ich auch auf der Bühne gesagt: wir hätten uns rein theoretisch auch treffen können.
Kathert: Beinahe hätten sich unsere Wege gekreuzt. Denn ich war 1968 zu den genannten Ereignissen in der damaligen CSSR, mitverantwortlich mit einem ganzen Grenzregiment, stationiert im Raum Plauen, um diese Aktion grenzmäßig zu sichern. – Und ich darf eine zweite Korrektur in deinem Denken vornehmen, in deiner Erinnerung: Die Grenztruppen der DDR waren nie, ich betone: nie, vorgesehen, Handlungen auf tschechischem Gebiet zu tun.
Kurze: Das hast Du gewusst.
Kathert: Ja natürlich.
Kurze: Aber wir doch nicht! Als Soldat oder Gefreiter stehst du da und weißt nicht, was der nächste Befehl sein wird. Die große Unsicherheit war, dass wir den Auftrag hatten, diese Grenze zu schützen. Aber dann, bei der Armee, kommt vielleicht plötzlich der Befehl und es geht nach Prag, weil dort irgendwelche Ereignisse stattfinden und wir sind die Nächsten von dort.
Kathert: Da stimme ich zu, aber eins ist auch wahr: Günter, ich bin ja sehr froh, dass Du vertrittst, dass DDR-Soldaten – bleiben wir mal bei dem Überbegriff – sich damals an den militärischen Handlungen der Warschauer Vertragsstaaten beteiligten. Das ist die wichtigste Aussage. Ich habe damals an meine drei Grenzregimenter, die in vordester Linie lagen, eins davon an der DDR-tschechischen Grenze, den Auftrag weitergegeben, die Grenze zu sichern, damit es niemanden gelingt, aber auch niemanden, diese Grenze zu überschreiten, aus keiner Richtung. Denn wir mussten ja auch damit rechnen, dass bestimmte Kräfte aus der damaligen CSSR versucht hätten, ihr Land über die DDR verlassen zu wollen.
WO KANN KATHERT KURZE SEHEN
Rimini Protokoll: Günter, Du hast ja auch in dem TV-Film »Nikolaikirche« mitgespielt, in dem es um den Oktober 1989 geht. Wen hast Du da gespielt?
Kurze: Einen Grenzsoldaten… Es verfolgt mich.
Rimini Protokoll: Hätte es da geholfen, wenn Du Herrn Kathert kennengelernt hättest, zum Rollenstudium?
Kurze: Wenn du 18 Monate dabei warst, das ist Studium genug. Da bist Du ja mit Leuten aus allen Rängen irgendwie zusammengekommen.
Kathert: Glaub ich nicht.
Kurze: Naja, nicht direkt zusammen gekommen, meine Ebene war so Hauptmann, also alles, was so auf Kompanie-Ebene war.
Kathert: Genau.
Kurze: Aber das ist doch egal, ob einer Hauptmann ist oder Oberst, das ist doch für den Schauspieler, für das Material, zum Beobachten ist das doch wurscht. Da hast du doch die ganze Hierarchie, bis hin zu meinem Hauptfeldwebel. Die Soldaten dort, die waren, 18, 19 Jahre alt. Die waren geworfen in eine Situation, mit der sie eigentlich überhaupt nicht umgehen konnten. Und ich bin kein Militärexperte aber ich denke, der Soldat, der braucht ein eindeutiges Wehrmotiv. Der darf nicht anfangen, dialektisch und differenziert zu denken. Da findet eine totale Vereinfachung der Dinge statt. Und das war 1968 mein Trauma – damit werden 17-, 18-, 19-Jährige ausgestattet. Und wenn in Berlin, wo ich bei den Grenztruppen war, einer die Grenze überschritten hätte und zwar in deinem Revier, dann wärst du schwer verknackt worden. Und wenn du zu den Grenzern drüben nur Hallo gesagt hättest, das wäre das Ende gewesen. Die warfen Zigaretten rüber. Hättest du die aufgehoben, dann wär’s das gewesen mit das mit Studium und im Grunde alles im Eimer. Für mich ist das nach wie vor ein Grauen: Junge Leute stehen da mit so einem versimpelten Feindbild und knallen jeden ab, der dort rüber rennt.
KATHERT IM THEATER
Rimini Protokoll: Hast Du denn Günter mal im Theater gesehen?
Kathert: Nein, ich hab ihn nicht gesehen. Unsere Wege haben sich nur einmal kurz gekreuzt, als ich anreiste zur zweiten Vorstellung in Prag und er mit dem gleichen Fahrzeug zurückfuhr. Wir konnten außer Guten Tag, wie geht's, wie steht's, gar nichts machen. Wie er als Profi wirkt auf der Bühne hab ich noch nicht erlebt.
Kurze: Ja, dann komme doch ins Palais. Aber es ist eigentlich immer ausverkauft.
Kathert: Wo ein Wille ist, ist auch ein Gebüsch.
Rimini Protokoll: Oder wir gucken mal den Film »Nikolaikirche«, da spielt Günter einen Grenzer.
Kathert und Kurze: Och neee!
Rimini Protokoll: Hast Du denn mal was im Theater in Dresden gesehen?
Kathert: Das ist schon lange her. Die ganzen Brecht-Dinger. »Die Heilige Johanna der Schlachthöfe«. Wir hatten von der Militärakademie aus so ein Vorrecht und sind immer, jetzt sag ich mal »im Kollektiv«, gemeinsam hingegangen. Da gab's schöne Dinge, da gab's auch Mist. Ich erinnere mich: »Eugen Ohnegin«, da bin ich rausgelaufen. Das passte nicht in mein militärisches Denken.
»DIE GRENZEN DER DDR«
Rimini Protokoll: Günter betont immer die Sicherung nach Innen; Du, Karl-Heinz, sprichst im Stück ausschließlich über die Sicherung nach Außen.
Kurze: Der Schutz war eindeutig gegen Innen gerichtet. Guck Dir doch an, wie die Mauer angelegt worden ist.
Kathert: Ja natürlich.
Kurze: Erst kamen die ganzen Schutzwälle, bis du dann zur Mauer hinkamst.
Kathert: Ihr habt ja das Buch erworben, »Die Grenzen der DDR«, zu dem ich auch einen Beitrag geleistet habe (Klaus-Dieter Baumgarten u.a.: »Die Grenzen der DDR. Geschichten, Fakten, Hintergründe«, Edition Ost; 2005). Ich habe das ja nicht umsonst auf der Bühne mit und zeige das und lese da drin.
Rimini Protokoll: Du hast es zum Spickzettel umgebaut...
Kathert: Nein! Ich will das zeigen...
Kurze: Der braucht doch keinen Spickzettel...
Kathert: ...weil dort die Seite deutlich gemacht wird: Die Grenztruppen waren dann keine Grenzpolizei mehr und damit hatten wir auch keine polizeilichen Vollmachten mehr, wir durften keine Vernehmungen mehr machen, wir durften keine Untersuchungen vornehmen, nichts!
Kurze: Aber sag mir mal: Die Wende war für viele ganz kompliziert. Ihr hattet doch das Feindbild verinnerlicht! Jetzt plötzlich haben die doch die eine Uniform ausgezogen und haben die andere angezogen!
Kathert: Das stimmt doch nicht!
Kurze: Der Wechsel der Armee, der ist für mich am Ungeheuerlichsten.
Kathert: Es gab keinen Wechsel.
ALLE VERGLEICHE HINKEN
Kurze: Du, ich habe gesehen, im Fernsehen, da stand einer auf einer dieser steinernen Tribünen, der hielt eine Abschiedsrede, dann holten die die Fahne runter, dann rollten die die zusammen, steckten die in ein Lederfutteral, marschierten von dannen und das war's. Das war für mich unvorstellbar! Die waren doch die Sieger der Geschichte gewesen! Ihr wart doch die »Sieger der Geschichte«! - Plötzlich waren die die Verlierer der Geschichte. Das kriegt doch ein Mensch gar nicht in seinen Kopf! Die »Sieger der Geschichte” waren am Arsch des Propheten!
Kathert: Das sagt der Gefreite... - Es gab, das kann ich hier an diesem Tisch sagen, keine Verbrüderung zwischen der Bundeswehr und der NVA, beziehungsweise den Grenztruppen, sondern die NVA wurde mit dem 3. Oktober aufgelöst.
Kurze: Aber viele sind in der Deutschen Bundeswehr.
Kathert: Ja, was heisst »viele«, das stimmt doch gar nicht! Die haben ursächlich 3000 Berufssoldaten übernommen. Ich kann Dir jetzt aus der Hüfte nicht sagen, wieviele davon noch dienen. Aber das sind alles Leute gewesen, die unter 50 Jahre waren. Nun kannst Du Dir ja selber ausrechnen, wer nicht übernommen wurde, da fielen alle Generale drunter, alle Obersten, bis runter zum Major!
Kurze: Das versteh ich nicht. Du redest so viel über Strukturen und über Militär und Weltpolitik, aber für Dich muss doch die Wende schrecklich gewesen sein.
Kathert: Nein, die war überhaupt nicht schrecklich.
Kurze: Also, wenn ich in einem Krankenhaus arbeite oder Bäcker bin, dann krieg ich das hin, dann verkauf ich meine Brötchen doch im neuen System genauso. Aber die Soldaten standen doch »mit Leib und Seele", sie haben den Sozialismus in diesem Land verteidigt. Und plötzlich ist der weg! Das ist so, als würden sie zu mir sagen »ab morgen gibt's kein Theater mehr, jetzt gibt's nur noch Ballett, oder nicht mal mehr Ballett«.
Kathert: Aber der Vergleich, der hinkt...
Kurze: Alle Vergleiche hinken, aber Du wirst doch Deine Oberleutnants und so - Du kennst die doch auch alle noch...
Kathert: Ich kenne die...
Kurze: Die sind doch auch nur bedingt....
Kathert: Schön ruhig... Ich muss dran erinnern, ich hatte nach 1972 direkt mit der Truppe keine Beziehungen mehr.
Kurze: Das ist doch egal.
Kathert: Das ist nicht egal! Da hatte ich keinen Einblick mehr, was in der Kompanie los war.
Kurze: Für mich ist unglaublich, wenn ich das Bild sehe vom Grenzübergang Bornholmer Straße am 9. November 89: Die Leute, die ein Leben lang dort zugemacht haben, die einen niedergeschossen hätten – plötzlich geht der Schlagbaum hoch, die Leute gehen durch – und das Gesicht von diesem einen Grenzsoldaten... Für den war »die Welt aus den Fugen«! Aber diese Seite kommt bei Dir gar nicht vor!
Kathert: Die habe ich nicht erlebt! Versteh mal, ich war schon im Mai 1989 Oberst a.D.
Kurze: Na, das war doch 3 Tage vor Ende!
Kathert: Ach wo! Im Mai! Och!
Kurze: Ich bin jetzt im Juni Rentner geworden, trotzdem kenne ich doch das Theater noch und die Leute da.
Kathert: Mein Dienst in der Truppe war 1984 beendet. Und alles, was danach passiert ist, dafür bin ich kein Zeitzeuge. Da würde ich lügen, wenn ich sage »ich habe erlebt..« oder »ich habe gemacht...«
Kurze: Aber die treffen sich doch heute noch!
Kathert: wer denn!?
Kurze: Ich frag doch nur nach der Seite, wo’s um Menschen geht und darum, was mit ihrem Leben geschieht. Das kommt bei Dir gar nicht vor!
WAS HÄTTEST DU GETAN?
Kathert: Schau mal: Manchesmal hab ich mich geärgert, dass ich schon so alt war – aber ich bin doch froh, dass ich im aktiven Dienst den Untergang der Truppe und damit der DDR nicht erlebt habe. Da bin ich Außenstehender.
Ich habe mich selbst oft geprüft: Was hättest du getan, wenn Du an der Bornholmer Straße gestanden hättest oder hättest das Kommando über diese Grenzübergangsstelle gehabt. Die Frage kann ich mir bis heute nicht beantworten, will ich auch nicht beantworten, weil ich mich in die Lage der Männer, die den Ansturm der Menschen aufgrund der Fehlinformation dort im Fernsehen durch Schabowski erlebt haben, gar nicht nachvollziehen kann. Ich kann nur sagen: Es ist ein Glück, dass das so gelaufen ist. Und damit beginnt für mich auch ein Umdenken. Ich habe dann Oberste und Generäle der Bundeswehr kennengelernt, und kann Dir nur bestätigen: Wir verstehen uns. Und warum? Weil es bei den Ereignissen im Herbst 1989 bis nach 1990 zum Glück nicht zu einer Anwendung der Mittel kam, über die wir verfügten, beide Seiten.
Ich bin seit 1991 Mandatsträger des deutschen Bundeswehrverbandes und wurde oft gefragt: wie kamst Du als Offizier der DDR-Streitkräfte dazu, dieser Interessenvertretung anzugehören – und da bin ich nicht einfaches Mitglied sondern Mandatsträger des Deutschen BundeswehrVerbandes. Viele, die ich kenne, haben gesagt: nee, das interessiert mich nicht, ich habe die Schnauze voll. Mein Idol ist weg, für mich ist ne Welt zusammen gebrochen. Aber ich bin Politikwissenschaftler, ich hab ja die Dinge von Beginn an anders beurteilt. Und ich mache mir keine Vorwürfe, weil ich im Unterschied zu den Männern, die bis zur allerletzten Stunde an der Grenze stehen mussten, oder in den Truppen der NVA, diese damaligen Änderungen persönlich nicht bestehen musste.
Deshalb fühle ich mich da auch nicht belastet. Unter meinem Kommando – sonst hätten sich ja die hiesigen Justizorgane auch anders verhalten – es gibt keine Nachweise, dass durch meine Entscheidungen Leute zu Tode gekommen sind. Ich bestreite nicht, dass es bedauerlicherweise auch solche Fälle gegeben hat. Aber ich bin Zeitzeuge für mich und nicht für andere.
ANGENOMMEN, UNSERE WEGE HÄTTEN SICH AN DER GRENZE GEKREUZT
Kurze: Ich will dir bloß sagen: Ich bin doch zeitlebens ein linksdenkender Mensch gewesen, ich tue mich mit dieser neuen Demokratie außerordentlich schwer und mir würden da tausend Dinge einfallen, wo ich mit nem Knüppel dazwischen hauen könnte, aber dieses Erlebnis Grenze dort war für mich doch das einer fremden Welt.
Kathert: Mal angenommen wir hätten uns kennen gelernt 1968, als er hier im Busch lag, vielleicht war er sogar eingesetzt in dem Wald, in dem ich Jäger war, vielleicht, da hätte ich gesagt: na was macht ihr denn hier…. Da hätte ich mich mit ihm wie ein Oberst mit einem Gefreiten unterhalten.
Kurze: Gar nicht...
Kathert: Vorsicht! Mit strengem Ton hätte ich gesagt: Genosse Soldat, wie denken sie über ihre Aufgaben?
Kurze: Der Vorteil war als Kompanieschreiber..
Kathert: Naja, der hatte doch Narrenfreiheit..
Kurze: Nun kam dazu, das ich auch der Älteste war, die anderen waren doch alle solche Kleenen.
GRENZER GEWESEN SEIN
Kathert: Er kann eigentlich gar nicht für sich in Anspruch nehmen zu sagen »Ich war Grenzer«.
Kurze: Nee.
Kathert: »Ich habe bei den Grenzern gedient«, kann er sagen. Das ist ein Riesenunterschied.
Kurze: Ich hab mal so reingeguckt.
Kathert: Denn er hat nie mit der MP auf dem Rücken vorne an der Linie Dienst gemacht. Heute kann man sagen, das war sein Glück. Nehmen wir mal an, er hätte einen Postenführer gehabt, einen ganz scharfen, der sagt, hier auf den Millimeter wird die Vorschrift erfüllt. Da ist ein Grenzverletzer, schieß!
Kurze: Das haben die doch von sich aus gemacht, schon aus Angst.
Kathert: Das kann eigentlich nur jemand ermessen, der selbst sich in dieser Materie befunden hat. Wer nicht selbst an der Grenze stand, vollbewaffnet, vollmotiviert, und es darf keiner durch, koste es was es wolle und selbst, wenn du das letzte Mittel anwendest, nämlich die Schusswaffe. Das musst du mit dir selber ausmachen, was du getan hättest in der Situation.
Kurze: Das war deutlich.
Kathert: Als ich 1949 anfing hatten wir als Hauptbewaffnung Karabiner, damit konnte man einen Schuss abfeuern, dann musste man neu laden. Also hatte man zwischen zwei Schüssen mindestens Bedenkzeit. Als die MPs eingeführt wurden, da brauchtest du nur brrrrrrrrrrrr machen und dann kam ein Feuerstoß. Und wer einmal mit der MP geschossen hat – ich habe das auch gemacht, also vorgeführt, kontrolliert bei Inspektionen usw. – der weiß, wie problematisch das ist.
Ich stimme übrigens auch zu, wenn gesagt wird, für viele von uns brach eine Welt zusammen, das ist völlig klar. Aber bloß, das Leben muss ja weitergehen.
Kurze: Das muss weitergehen. Aber ich denke für die Armee ist das furchtbar gewesen.
Kathert: Ja klar war das furchtbar. Ich habe doch die letzte Generation der Regimentskommandeure mit ausgebildet, in individuellen Gesprächen habe ich die gefragt: Sag mal, wie war denn deine Haltung an dem Tag, zu der Stunde? - »Frag mal was anderes« war die Antwort.
Kurze: Aha.
STOLZ, ZUFALL, VERDIENST
Kathert: Ich möchte dir noch zwei Dinge sagen: Du kannst stolz sein, dass Du bei den Grenztruppen gelandet bist. Da gab’s ein strenges Auswahlprinzip.
Kurze: Ich hatte keine Westverwandten.
Kathert: Ja siehste.
Kurze: Das war aber Zufall, kein Verdienst.
Kathert: Das spielt doch keine Rolle. Du warst ein geeigneter Kandidat. Ich hatte auch keine Westverwandten, sonst hätte ich ja diese Laufbahn nicht machen können. Das haben wir unseren Männern immer gesagt: Ihr seid auserwählt. Nicht jeder kriegt das Vertrauen, vorne zu stehen an der Linie. Das war schon eine Ehre, stimmst Du mir zu?
Kurze: Und da haben sie uns diesen scheiss Stolz noch eingeredet.
Kathert: Na ja, das ist ein ganz großes Problem, mit dem Du selbst fertig werden musst. Zweitens möchte ich dir sagen: ich kenne ja die Kompanien, die 1968 von der Grenze zur BRD und von Berlin zur Verstärkung an die tschechische Grenze verlegt wurden, eine gehörte zu meiner Brigade. Ich kann nachfühlen, dass Dein Kompaniechef unheimlich stolz war. Von den vielen Kompanien…
Kurze: Er wurde »auserwählt«. Das war mehr als ne Beförderung. Er ist dann anschließend auch befördert worden. Er hat die Beine geschmissen beim Appell, das war großes Ballett.
Kathert: Na klar, das war ne Ehre!
Kurze: Die hatten das wirklich verinnerlicht. Wenn du jetzt im Fernsehen Berichte siehst, wo sie alte Offiziere oder Stasi-Leute interviewen – die haben ja nicht nur das System, sondern auch den Sprachduktus verinnerlicht. 20 Jahre ist das her und die reden immer noch in diesem etwas abgestandenen, gestelzten Ton: »Wir haben Maßnahmen durchgeführt…«
Kathert: Das bleibt auch im Gedächtnis.
Dieses Werk bzw. dieser Inhalt ist unter einer Creative Commons-Lizenz lizenziert.