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Vùng Biên Giói

von Rimini Protokoll

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Verteidigung des Theatralen im Dokumentationstheater

Lukáš Jiřička

Mnemopark, Das Kapital, Erster Band, Vùng biên gió’i. Drei Inszenierungen, die eine Diskussion über die Gestalt und die neuen formalen und inhaltlichen Möglichkeiten des zeitgenössischen Theaters hervorgerufen haben. Immer, wenn Werke der deutsch-schweizerischen Theatergruppe Rimini Protokoll in Tschechien aufgeführt wurden, fanden sie sowohl beim Publikum als auch von Journalisten und der Fachpresse eine begeisterte Aufnahme.

Dennoch sind unter den Zuschauern, aber auch in der Presse Stimmen laut geworden, die sich weigern, die Form und die Sprache des sog. Dokumentartheaters als vollwertige, z.B. dem klassischen Drama vergleichbare Theaterform zu akzeptieren. Als Beispiel für solche Nicht-Akzeptanz oder auch direkte, kategorische Ablehnung kann eine in ihrer Haltung einzigartige Rezension der Kritikerin Jana Machalická in den Lidové noviny gelten. Sie erkennt dem Schaffen von Rimini Protokoll den souveränen Status eines theatralen Kunstwerks ab, ohne sich auf eine detailiiertere Erklärung ihrer Meinung oder die Suche nach konkreten Argumenten für ihre Behauptungen einzulassen.

Machalická schreibt nach ihrem Besuch von Vùng biên gió’i: »Die zweistündige Produktion, während derer tschechische und deutsche Vietnamesen ihre Schicksale erzählen und illustrativ Kleidungsstücke auf Ständen stapeln oder auch gelegentlich anziehen, zeigt aber deutlich, dass das sog. dokumentarische – oder wenn Sie so wollen, soziologische - Theater seine Grenzen hat. Und dass es nie ein Theater ersetzen wird, das versucht, sein Zeugnis von der Welt in eine künstlerische Form zu gießen. Vielleicht kann es dieses auf einer Ebene ergänzen. Nur dass es nicht immer so unterhaltsam und spielerisch unmittelbar ist wie in Mnemopark, wo die Experten mit ihren Maschinchen ein geheimnisvolles Land namens Schweiz erkunden.

In der Scharade über die vietnamesische Community ragt nur die amateurhafte Unbeholfenheit der Erzähler heraus, die manchmal niedlich ist, aber nichts weiter. Trotz der Tatsache, dass sich diese Realitiy Show als Theater ausgibt, ähnelt sie mehr einer psychotherapeutischen Sitzung, der zuzuschauen kein besonderes Vergnügen ist, von der Nichtexistenz einer Pointe ganz zu schweigen. Mitteilung, Übertragung und notwendige Katharsis bleiben nämlich nur einer Seite vorbehalten, auch wenn ich mir ruhig und mit Interesse anhören kann, wie die zweite Generation der Vietnamesen bei uns heute so lebt, wie die erste Ho Chi Min durchschaute und gegen ihn revoltierte und wie sie von der Polizei verhaftet wurde, als sie schwarz Zigaretten verkaufte. Histörchen aus absurden Zeiten.

Aber Theater? Kaum. Dokument? Womöglich, aber dann wäre mehr rohe Realität gefordert. Denn die, die die heutigen Gastarbeiter in Tschechien betrifft, ist verdammt rau, das sind nicht irgendwelche lächelnden Bilderchen vom Markt. Und das ist ein weiteres Problem – Rimini Protokoll bleibt, trotz seiner avisierten Recherchen, noch sehr an der Oberfläche.« Dieses Rezensionsfragment verweist in seinem Subtext auf etwas wirklich Wichtiges, und zwar auf die Grenzen der Rezeption einer anderen Theatersprache, die nach den Worten der Rezensentin mit traditionellen Bereichen performativer Kunst keinerlei Berührungspunkte aufweist.

Den Text der Autorin kann man sich noch auf andere Weise erklären – nicht nur, dass ihr die Schicksale der Helden – der Experten des Alltags (nicht zu verwechseln mit Amateurschauspielern) - als nicht grausam genug und für andere Personen in ihrem Widerhall nur minimal ergiebig erscheinen, ihnen fehlt vor allem das Element der Katharsis in starken Situationen, die in das starke Ende münden, das für das Theater so wichtig ist und die gesamte Inszenierung auf gewisse Weise abschließt oder auflöst. Man braucht diese Haltung nicht abzulehnen, man sollte sie eher als ein bestimmtes, modellhaftes Bild eines Theaterkonsumenten begreifen, für den die Vorherrschaft des »Texttheaters bzw. des interpretativen Theaters« immer noch bestimmend ist, auch wenn sie den Leser der Rezension durch jene Forderung nach harter Realität auf der Bühne irritieren kann.

Auf der Bühne oder in der Erzählung? Hat die Autorin Bilder einer brutalen Realität im Sinn, die in Situationen, Filmprojektionen oder schauspielerischer Aktion visualisiert werden, oder nur auf der Ebene der verbalen Mitteilung? Diese Forderung nach einem Text oder einem Drama, das in eine Aussage oder eine Ausklang mündet, fordert im Grunde die geschlossene Interpretation eines Regisseurs ein und begründet das Bedürfnis, im Werk eine bestimmte, inszenatorische Intention zu finden, einen Schlüssel zum Text, der den Zuschauern angeboten wird.

Es hat keinen Sinn, manche Ansichten zum dokumentarischen Theater als traditionell zu definieren, und doch deutet der gewisse, grundlegende Widerspruch, der in der zitierten Rezension enthalten ist, auf die möglichen Grenzen der Rezeption durch Zuschauer hin, die es gewöhnt sind, dramatisches (bzw. Text-, Schauspiel- oder interpretatives) Theater zu verfolgen. Für diese Zuschauer ist, vereinfacht gesagt, das A und O der Theaterkunst immer noch die Forderung einer großen Erzählung, die durch einen betonten Punkt am Ende mit einem kathartischen Ausklang beschlossen wird, aus dem man eine Lehre ziehen oder wenigstens einen gewissen, geschlossenen Eindruck von der Vorstellung mitnehmen kann.

Und die Träger dieser Erwartungshorizonte oder deutlich artikulierten Zuschauerbedürfnisse überzeugt auch die offensichtliche Theatralität und Formalität einiger grundsätzlicher Werke aus der Werkstatt von Vertreter des Dokumentartheaters nicht, die prinzipiell auf diese Forderung nach einer starken Story und nach Katharsis verzichtet haben, eben gerade zugunsten eines offenen Ausklangs und verschiedener Blickwinkel auf das jeweilige Problem, die Community oder das soziale Faktum, sowie zugunsten einer heterogenen Theatersprache.

Die mögliche Ablehnung dieses Zweigs der performativen Kunst ist wahrscheinlich dadurch begründet, dass das postdramatische Theater erst dabei ist, sich seinen Platz auf auf den tschechischen Bühnen zu erobern, dies gilt für die dokumentarische Form ebenso wie für technisches Theater, Körper- oder Musiktheater. Die Entwicklung des Feldes, auf dem Rimini Protokoll schon seit mehreren Jahren erfolgreich und mit aller Verve seine Auffassung von Theater definiert, steckt bei uns noch in den Kinderschuhen. Trotzdem haben sich einige Theaterschaffende aus dem Umfeld des Divadlo Archa (Jana Svobodová oder Thorsten Trimpop) und die Regisseurin Petra Tejnorová in der Inszenierung Osobní anamnéza (dt.: Persönliche Anamnese) dem Dokumentartheater mit »Experten« gewidmet, dies sind aber bisher verhältnismäßig vereinzelte Stimmen ohne prägnante Wirkung oder Nachahmer.

Es gibt Vieles, was man Rimini Protokoll, aber auch anderen Machern von Dokumentartheater vorhalten könnte. Im Fall der Inszenierung Vùng biên gió’i ist z.B. der Aspekt einer gewissen Ausgewogenheit der vertretenen Experten kritisiert worden (man hätte z.B. wunderbar tschechische oder deutsche Landesbewohner mit ihren verwurzelten Ansichten auf die vietnamesische Community, aber ruhig auch Politiker, Angestellte der Ausländerpolizei oder Personen mit negativer Einstellung zur Frage der Immigration hinzunehmen können) oder auch das manchmal etwas unsichere und befangene Tempo der Inszenierung.

Aber eines kann man den Schöpfern nicht absprechen: Das Theater und die Bemühung um eine starke Bühnenform stehen bei ihnen immer an erster Stelle, das wird auch in den Inszenierungen selbst deutlich. Es gehen ihnen zwar konkrete, thematische Definitionen voraus, die Arbeit mit den Experten selbst und die Rcherche aller möglicher Informationen zum abgesteckten Interessengebiet, die natürlich den größten Teil der Vorbereitung darstellen, aber das primäre Zentrum der Arbeit dieser Theatergruppe ist das Theater und erst an zweiter Stelle ein konkretes, »dokumentarisches« Verständnis in allen möglichen künstlerischen und informativen Aspekten. Im Unterschied zum Schauspiel, das häufig immer noch zur einheitlichen und konzeptuellen Auslegung eines Dramas tendiert, bemüht sich das schweizerisch-deutsche Trio um eine Extensität von möglichen Perspektiven auf ein Thema oder ein Problem, ohne zu werten oder deutliche Schlussfolgerungen zu ziehen – im Falle von Vùng biên gió’i bringen uns die Künstler das komplizierten Thema der vietnamesischen Minderheit in Tschechien und Deutschland näher. 

Hätte Rimini Protokoll vor, sich echter, soziologischer Forschung und Analyse festgelegter Themen zu widmen, würden sie sicher Studien, Bücher, Vorträge und Konferenzen als Ausdrucksmittel wählen, nicht die Sprache der Kunst. Wenn die Rezensentin bezweifelt, dass Vùng biên gió’i Theater ist, hat sie die Vorstellung wahrscheinlich nur auf der textuellen Ebene verfolgt, wo ihr die einzelnen, persönlichen Geschichten und Schicksale mit einem Werk dramatischer Literatur unvereinbar erschienen. Die Schicksale und Worte der Akteure der Vorstellung haben für Jana Machalická einen rein dokumentarischen Wert. Sie lehnt es rundweg ab, die Werke von Rimini Protokoll als Akte zu akzeptieren, die jene lange Tradition des interpretativen Theaters negieren, und schließt sie ganz aus der Sphäre der Kunst aus, indem sie ihnen den geringer wertigen Status unvollkommener Dokumentaristen zuweist, von denen sie brutale Realität fordert.

Und doch schafft Rimini Protokoll vollwertiges Theater mit Hand und Fuß. Theater im Sinne eines spektakulären Erlebnisses voller innovativer Lösungen auf der Ebene der Szenographie, aber auch der Musik und des Textes. Die Inszenierungen von Rimini Protokoll enthalten alle notwendigen Komponenten – angefangen bei Musik, Lichtdesign und Projektion über Choreographie und eine dramaturgisch gründlich vorbereitete Struktur bis hin zum Schauspielen und einer ausgestellten Geschichte – allerdings einem Schauspielen und einer Geschichte anderer Ordnung, als es professionelle Schauspieler oder Amateurschauspieler hervorbringen.

Die Kritik, dass es sich nicht um Theater handele, steht also auf sehr tönernen Füßen, genau wie jede mögliche Ktritik an der Verlegenheit der Experten oder gewisse andere Engstirnigkeit. Wenn Handlung und dramatische Situation, egal in welcher Form, im Theater unverzichtbar sind, dann erfüllt Rimini Protokoll diese Forderung genauso souverän wie viele andere Forderungen, allerdings geschieht dies oft in ungewöhnlicher Form, sehr verfremdeter Atmosphäre und in einer provokativen und oft fast statischen szenischen Umgebung.

Das, was in anderen dramatischen Werken als negative Eigenschaft gewertet wird – eine gewisse Scheu und Nervosität der Protagonisten, dass sie das Szenario vergessen und sich gegenseitig auf den notwendigen, nächsten Schritt in der Vorstellung aufmerksam machen, wird hier nicht nur zur positiven Qualität, sondern ist ein Phänomen, mit dem gerechnet wird. Es ist aus dem Ganzen genauso wenig wegzudenken, wie z.B. einzenen Akteure unersetzlich sind, obwohl es manchmal, aus gesundheitlichen Gründen z.B., vorkommt, dass jemand anders, gewöhnlich ein Schauspieler, einen der Texte lesen muss.

Das Künstlertrio ist für eine gewisse Unvollkommenheit offen, für eine riskante und unfertige Form, die vollständig von den Experten abhängt und für die es oft nicht einmal ein detailliertes Szenario gibt. In dem Moment, wo die Protagonisten das Werk besser kennen und ihre Auftritte immer einstudierter und perfekter werden (und sich also von der ursprünglichen, autentischen Erzählung oder Aktion entfernen), verliert die Vorstellung an Kraft. Dies ist das Gegenteil von sog. normalem Theater, wo häufig die perfekte und immer gut wiederholbare Gestalt der Inszenierung eingefordert wird und die Schauspieler nicht improvisieren dürfen. Gefordert ist etwas Beständiges, Fertiges, Einstudiertes und Unveränderliches. Solange in den einzelnen Arbeiten von Rimini Protokoll Fehler, Nervosität und Blackouts auftreten, ist alles in bester Ordnung, weil das bedeutet, dass auf der Bühne wirkliche Menschen stehen, die wirkliche Schicksalen haben, die sich auf viele verschiedene Weisen erzählen und vorführen lassen, immer anders und manchmal auch verdreht.

Zuschauer, die sich nicht von dem ersten Schock erholt haben, den die Tatsache auslöst, dass Rimini Protokoll das Tabu des Grundsteins der performativen Repräsentation bricht, indem es das Prinzip auf den Kopf stellt, demgemäß der Spielende auf der Bühne nicht er selbst mit seiner Geschichte ist, sondern etwas repräsentiert, fühlen sich durch dieses Phantom einer Ralität ohne überflüssige Gesten betrogen. Sie fühlen sich dadurch betrogen, dass die Protagonisten Subjekte sind und nicht Objekte der Inszenierung, und sie lehnen es ab, auf dieses Spiel einzusteigen, denn sie erwarten eine wahrscheinlich eine Vorführung, Mimesis und einen adneren Typ von künstlerischer Phantasie.

Der Schock, den es auslöst, dass Personen und repräsentierte Figuren ein und dasselbe sind, verfliegt allerdings schnell, wenn der Experte sich als Teil einer komplexen, dramatischen Maschinerie und einer neu oder theatral konstruierten Realität mit hyperbolisierter, kommentierender Szenographie erweist, die sich nicht selten an der Grenze einer Galerie-Installation bewegt anstatt das Bild eines bestimmten, konkreten Milieus zu liefern. Wenn die Werke des schweizerisch-deutschen Trios nicht theatral  und  provokativ genug wären, wenn sie  nicht die gesamte theatrale Praxis durch ihr subversives Potential problematisierten, wenn sie nicht so leidentschaftliche Diskussionen darüber auslösen würden, wo die Grenzen des Theaters liegen, worin die Rolle des Schauspielers besteht und wer alles auf der Bühne auftreten kann,  dann würden wir bis heute denken, dass die Grenzen der Theaterkunst weit enger gesteckt sind und den Einbruch einer mosaikartig zusammengesetzten, rohen oder auch banalen Realität nicht aushalten.

© Übersetzung aus dem Tschechischen: Kathrin Janka, 2010.

Lukáš Jiřička

Wurde im Jahre 1979 geboren. Er studierte Komparatistik an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität und Dramaturgie an der DAMU (Theaterakademier der Musischen Künste in Prag). Er arbeitet als Theaterdramaturg und Regisseur von Radioartprojekten, vor allem für den Tschechischen Rundfunk und für verschiedene Gallerien. Er schrieb das Libretto für Miroslav Pudláks Oper »Die Sachsen in Böhmen« (Ständetheater, Prag), assistierte Krystian Lupa bei der Inszenierung von »Zaratustra« in Krakau. Dramaturg und Organisator des Festivals der »anderen« Musik »Stimul« und des Festivals von Improvisationsmusik »IMPRO#«. Neben organisatorischen Aktivitäten und Übersetzungen von Theatertexten schreibt er Beiträge zum Thema Musik, Theater und Literatur für Zeitschrifte HIS Voice, Respekt, A2, Svět a divadlo und UNI. Er interessiert sich für die Verbindung von theatralischen Prinzipien mit Musikstruktur und den Spezifiken des Mediums Rundfunk.

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