Das vietnamesische Tschechien
Von Jaroslav Rudiš
Die meisten Leute kommen am Wochenende, aber auch in der Woche herrscht reger Betrieb. Durch das blaue Tor rollt ein Strom von leeren und gefüllten Transportern und Trucks, zwischen denen sich PKW hindurchmanövrieren. Sapa heißt der größte vietnamesische Basar der Tschechischen Republik, hier kann man alles kaufen- von lebenden Krabben über Kleidung und Flugtickets bis hin zu Kunstblumen. Dieser Ort am Rande von Prag ist aber noch viel mehr: eine richtige Stadt in der Stadt.
»Sapa ist Vietnam im Kleinen«, sagt Ha Ngoc Linh, vierundzwanzig Jahre alt und Student an einer privaten Hochschule. Sein Studium musste er gerade unterbrechen; mit der Arbeit im Büro einer der vielen Handelsgesellschaften auf dem Sapa-Markt verdient er das Geld, um wieder an die Schule zurückkehren zu können. »Hier gibt es absolut alles. Ich esse hier, gehe zum Friseur und zum Karaoke. Nur zum Biertrinken gehe ich raus, in eine tschechische Kneipe«, sagt Ha Ngoc Linh und wendet sich seinem Mittagessen zu: Auf dem Schreibtisch, direkt vor dem laufenden Computer, steht ein großer Teller mit duftender Rindssuppe.
Davon, wie Vietnam wirklich riecht und wie Vietnamesen in Prag leben, haben viele Tschechen keine Ahnung. Auf Vietnamesen treffen sie lediglich in den Basaren und zunehmend auch in kleinen Lebensmittel- und Gemüseläden in den Städten, wohin sie sich von den immer weniger gut laufenden Märkten im Grenzgebiet zurückziehen. Viele Vietnamesen sind Lohnarbeiter in tschechischen Fabriken. Manche Tschechen wissen ihren Fleiß und ihre Einsatzbereitschaft zu schätzen, andere müssen erst über ihre Angst vor jeglichem Neuen und Anderen wegkommen. Fremdenfeindlichkeit ist hierzulande tief verwurzelt. Aber alle kaufen zumindest gelegentlich bei Vietnamesen ein.
»In der Tschechischen Republik leben legal etwa 60.000 Vietnamesen«, sagt die 28-jährige Hanka Daňková Klub Hanoi, einer der aus europäischen Fonds finanzierten Organisation, die sich vor kurzem in einem hohen Plattenbau am Rande des Basars ein Büro eingerichtet hat. Aus dem Fenster des kleinen Raumes hat sie einen Blick über das komplette Sapa-Areal, das an der Stelle eines ehemaligen Schlachthofs entstanden ist, und dessen Name sich auf einen bekannten Kurort in den Bergen Nordvietnams bezieht. Sie kann auch jene Halle sehen, die kürzlich von einem Großbrand verwüstet wurde und jetzt wiederaufgebaut wird. »Ursprünglich haben wir uns mit der Bekanntmachung der vietnamesischen Kultur und der vietnamesischen Community hierzulande beschäftigt. Mittlerweile konzentrieren wir uns aber auf Beratung und Integrationskurse, die den Vietnamesen helfen sollen, sich in die tschechische Gesellschaft einzugliedern.«
Der Klub Hanoi widmet sich auch der Bildung – er bietet beispielsweise kostenlose Tschechischkurse an – und gewährt Vietnamesen Hilfe in Notfällen. »Während der guten Konjunktur 2006 und 2007 sind circa 20.000 Menschen aus Vietnam nach Tschechien gekommen. Viele mussten zu Hause enorme Schulden machen, denn für die Vermittlung einer Arbeit zahlt man durchschnittlich 10.000 Dollar an die Agenturen. In Tschechien haben dann aber einige von ihnen ihren Job verloren und sind in eine Schuldenfalle geraten. Sie können nicht zurückkehren und sehen sich gezwungen, schwarz zu arbeiten, zu sehr niedrigen Löhnen und unter schlechten Bedingungen«, erläutert Hanka Daňková. Genau solche hohen Schulden haben Ende 2008 einen jungen Vietnamesen in den Selbstmord getrieben. Er hat sich hier im Sapa-Basar aufgehängt.
Tschechoslowakovietnam
Linh Nguyen wurde 1986 in einer slowakischen Kleinstadt geboren. Das Gymnasium besuchte er im nordböhmischen Děčín, jetzt studiert er in Prag Politologie und Territorialstudien. Er behauptet von sich selbst ein slowakischer, tschechischer und vietnamesischer Patriot zu sein. »Ich mach mir oft einen Spaß daraus, woher ich stamme und als was ich mich fühle. Man ist oft ein bisschen durcheinander, wenn man so einen Hintergrund hat wie ich. Mittlerweile glaube ich, dass ich fähig bin, meine Identität richtig zu reflektieren, gleichzeitig verspüre ich bereits den Drang in erster Linie zu sagen: Ich bin Tscheche, von der Abstammung her Vietnamese, geboren in der Slowakei. Was meinen Charakter angeht, bin ich wie ein richtiger Tscheche in der Lage alles zu kritisieren, ohne Ahnung zu haben, ich bin fleißig wie ein Vietnamese und finde slowakische Frauen toll«, sagt der junge Mann lachend, der Vietnam als seine zweite Heimat betrachtet, obwohl er das Land nur sehr unregelmäßig besucht.
Er denkt über die Frage nach, was Vietnamesen und Tschechen verbindet: »Gemeinsam haben sie auf jeden Fall den historischen Kontext ihres Nationalgefühls: ein kleines Volk gegen große Feinde. Deshalb schöpfen sie ihre Kraft aus schmerzlichen historischen Erfahrungen und aus der Selbstreflexion. Beide Völker sind in verschiedenen Situationen relativ erfinderisch und zurückhaltend gegenüber allem Fremden, Unbekannten«, sagt Linh Nguyen. Er findet, dass Vietnamesen im Unterschied zu Tschechen einen stärker ausgeprägten Verantwortungssinn gegenüber ihrer Familie und ihrem Umfeld haben, dass sie kämpferischer sind, entschlossen voranzukommen. Seine Eltern sind Unternehmer in der Gastronomie, er selbst engagiert sich in der Politik für die Partei liberálové.CZ und stand auch auf deren Kandidatenliste für die Europawahl. Sein Lieblingspolitiker ist niemand aus der tschechischen, ständig in irgendwelche Skandale verwickelten Führungselite, sondern der amerikanische Präsident Barack Obama. »Die tschechische Politik befindet sich schon lange im permanenten Krisenzustand und ich hab das Gefühl, dass sich das in unguter Weise auf die ganze Gesellschaft überträgt. Die Politik aus dieser Rolle rauszuholen, das ist keine Aufgabe für einen Einzelnen, sondern für eine ganze Generation. Ich glaube fest daran, dass ich zu dieser Generation gehören werde«, meint Linh.
Seiner Meinung nach könne man als Vietnamese in Tschechien gut leben, von ein paar bürokratischen und gesellschaftlichen Hürden abgesehen. »Was das Verhältnis zwischen den Generationen angeht, lässt sich das überhaupt nicht vergleichen. Unsere Eltern wurden in eine Welt hineingeboren, die von einem schweren Krieg gezeichnet war. Ich bin dann schon in einem völlig anderen Umfeld aufgewachsen, das viel liberaler war und materiell abgesichert. Ich musste und muss mich nicht mehr ums pure Überleben sorgen, allerdings wird von mir noch genauso erwartet, dass ich mich anstrenge. Mein Erfolg ist der Erfolg der ganzen Familie.«
Bananenkinder
In größerer Zahl sind Vietnamesen seit Anfang der 1970er Jahre in die damalige Tschechoslowakei gekommen. »Sie sind hier vor allem in technischen Berufen ausgebildet worden oder haben Industriefachschulen besucht. Nachdem sie Ausbildung und Praxis absolviert hatten, gingen sie zurück nach Vietnam. Zu dieser Zeit haben hier auch viele Vietnamesen an Hochschulen studiert. Gerade diejenigen, die mit dem Leben hier schon Erfahrungen hatten, haben bei uns nach der Wende mit Erfolg ein Gewerbe aufbauen können«, sagt Hanka Daňková und bestellt sich einen süßen und sehr starken Kaffe der Marke Trung Nguyen, deren Bohnen in Vietnam angebaut werden. Der Kaffeeverkäufer versorgt die Kunden in den Gängen des Basars mit einem speziellen Wägelchen, zu dem auch ein Autoradio gehört, aus dessen Lautsprechern romantische vietnamesische Melodien dröhnen. Seinen mobilen Stand hat er direkt neben einem der vielen Friseursalons geparkt. Es sind nur ein paar Schritte bis zum vietnamesischen Kindergarten und zur Redaktion der hiesigen Zeitung.
Wir aber begeben uns in den buddhistischen Tempel in einer Ecke des Sapa-Areals. Es ist ein Ort der Stille, in der Luft hängt der Geruch von Räucherstäbchen, die eine Verbindung zwischen den Betenden und denen herstellen, die in jene Welt hinübergegangen sind. Auf dem kleinen Hof steht ein gemauerter Grill, doch werden darauf keine Würste gebraten. Die Vietnamesen opfern ihren Vorfahren hier rituell Papiergeld. Meistens sind es Imitate amerikanischer Dollarnoten.
»In die Tschechoslowakei gekommen bin ich 1990, ich hatte ein Stipendium von der Regierung. 1991 bekam ich einen Studienplatz an der Karlsuniversität im Fach Journalismus und Massenkommunikation. Ursprünglich wollte ich nach dem Ende des Studiums so schnell wie möglich nach Hause zurück, aber dann habe ich angefangen, für die wichtigste tschechische Tageszeitung MF Dnes als externe Fotografin zu arbeiten. Und außerdem traf ich die Liebe meines Lebens. Mein Freund ist Tscheche, und er ist auch der Grund, warum ich dann doch geblieben bin«, erzählt Nguyen Phuong Thao, die 1972 in Hanoi geboren wurde. Sie mag Tschechien, fühlt sich aber als Weltbürgerin und befürchtet ein Anwachsen des Rechtsextremismus. »Da ich in Vietnam geboren bin und erst als Erwachsene nach Tschechien gekommen bin, spreche ich nicht wie ein Muttersprachler. Und ich bin auch sehr von der traditionellen vietnamesischen Erziehung geprägt, so dass ich eher zu jener ersten Generation von Vietnamesen gehöre. Für die zweite Generation, die in Tschechien geboren wurde und von Anfang an tschechische Schulen besucht hat, gibt es den Ausdruck Bananenkinder: außen gelb, innen weiß«, sagt Thao, die in der Redaktion von MF Dnes heute zu den besten Fotografen zählt.
Das größte Klischee über die Vietnamesen ist ihrer Meinung nach das des Händlers auf einem Basar. »In Vietnam herrscht Marktwirtschaft und das Kleinunternehmertum ist weit verbreitet. Wenn tschechische Verkäuferinnen und Kellner so viel Bereitschaft zeigen würden, von früh bis spät Leute zu bedienen und mit einem Lächeln im Gesicht zu arbeiten, wie ein durchschnittlicher vietnamesischer Markthändler, dann würde das der tschechischen Wirtschaft ausgesprochen gut tun und die Lebensqualität hier verbessern.«
Eine Liebesgeschichte
Die Sonne steht inzwischen spätnachmittäglich tief über dem Sapa-Basar. Mit Hanka Daňková sitze ich in einem der vielen Lokale bei einer wundervollen gebackenen Ente mit Nudeln. Wir tunken die Fleischstücke in Sojasauce mit Knoblauch. Wir sind die einzigen Tschechen hier. Am Nachbartisch macht eine Flasche Wodka die Runde, es wird etwas gefeiert. Mitten im Raum wachsen zwei große Bäume, ihre Stämme durchstoßen das Dach. Die Behörden hatten nicht gestattet, sie zu fällen, doch die Vietnamesen fanden eine Lösung und haben die Bäume einfach umbaut.
In einem der Restaurants hier hat Ha Ngoc Linh mit Freunden seinen Amateurfilm Eine Liebesgeschichte gedreht. »Das ist eine Sapa-Komödie, es geht um ein Mädchen und zwei Jungs, der eine ist arm und der andere reich«, sagt er und lässt uns raten, wem die Schöne am Ende ihr Herz schenkt. Zwischen den Ständen mit riesigen Kisten voller Waren haben sie mit einer kleinen Handkamera gefilmt und statt Profi-Lampen Autoscheinwerfer benutzt. Der Streifen war bei der vietnamesischen Community ein Riesenerfolg, und nicht nur dort – ein Interview mit Linh über den Film hat sogar das staatliche Tschechische Fernsehen gesendet. Vielleicht war Eine Liebesgeschichte auch deshalb so erfolgreich, weil Ha Ngoc Linh es versteht, die Probleme der Vietnamesen mit Humor und Distanz zu betrachten. Und nicht nur die der Vietnamesen: Er schaut sich auch die Tschechen genau an und schont sie dabei keineswegs. "Ihr könnt uns nicht mal richtig unterscheiden, ihr verwechselt Vietnamesen mit Chinesen. Aber wir können das auch nicht besonders gut. Ihr seht ja alle aus wie Deutsche!"
© Übersetzung aus dem Tschechischen: Mirko Kraetsch, 2009
Jaroslav Rudiš
wurde im Jahre 1972 in Nordböhmen geboren, lebt in Prag. Schriftsteller, Dramatiker und Drehbuchautor. Für sein erstes Buch »Himmel unter Berlin« (2002) erhielt er den Jiří Orten-Preis. Sein zweites Buch "Grandhotel" nutzte er als Grundlage für das gleichnamige Filmdrehbuch, das anschließend von David Ondříček verfilmt wurde (2006). Zusammen mit dem Künstler Jaromír 99 gestaltete er eine Comic-Romantrilogie »Alois Nebel«. Sein dritter Roman »Potichu« (Leise) wurde in 2007 publiziert. Zusammen mit dem Poet Igor Malijevský veranstaltet er jeden Monat im Prager Theater Archa ein literarisches Kabarett »EKG« und spielt gelegentlich mit den Bands »U-Bahn« und »The Bombers« mit.
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