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Vùng Biên Giói

von Rimini Protokoll

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Ich spiele Trang

Trang mit ihrer tschechischen Pflegefamilie in Rozvadov, 1999 © privat

Auf der Bühne, Dresden 2009
© Matthias Horn

Do Thu Trang – Rufname sprich »Chang«

wurde in Vietnam geboren: Vier Wochen vor dem Fall der Mauer, 20 Jahre vor der Premiere von Vùng biên gió’i. Als sie fünf Jahre alt war, ist sie mit ihrer Mutter ihrem Vater in die Tschechische Republik gefolgt. Ihre Eltern führen einen Laden für Genussmittel an der deutsch-tschechischen Grenze. Staatsangehörigkeit »vietnamesisch«, bald tschechisch (hoffentlich). Ihr Name im Tschechischen ist Lenka. Den hat sie sich selbst ausgesucht. Hat im Herbst 2009 ihr Studium der Deutsch-Tschechischen Beziehungen begonnen. Wohnt während der Woche in Prag und am Wochenende in Rozvadov. Wichtigste Mitgliedschaft: »We love vintage fashion« (bei Facebook). Atheistisch – aber bei Prüfungen streng gläubig.

Mit ihrem Vater im Wohnzimmer in Rozvadov, 2009 © privat

Auf der Bühne, Dresden 2009
© Matthias Horn

Mein Dorf

»Wir leben in einem Haus am deutsch-tschechischen Grenzübergang Rosshaupt (Rozvadov). Daneben liegt unser Laden. Es ist eine Hütte, mit einem Metalldach, das im Sommer ganz stark reflektiert. In Rozvadov leben 50 Vietnamesen und insgesamt 600 Einwohner. Wir sind Verkäufer, vor allem meine Mutter, von Genussmitteln: Zigaretten, Alkohol und so weiter. Meine Mutter spricht wenig Deutsch, aber mit ›Händen und Füßen‹ kommt sie zurecht. Ich habe mein Deutsch von den Kunden gelernt und von MTV. 

Ein typischer Kunde ist ein bayerischer Bürger, der grenznah lebt. Meistens sind sie ziemlich groß und oft dick. Die Menschen aus Bayern kommen in den Laden, meine Mutter sagt ›Hallo, bitte schön‹ und ich ›Grüß Gott‹, und die Kunden sagen dann: ›Ich krieg zwo Stangen West Leicht, bitte.‹ Dann sagt sie den Preis, und wenn der für den Kunden zu hoch ist, beginnt er zu handeln. Meine Mutter sagt dann ›Geht nicht, heute ist ein schlechter Kurs.‹

Wenn man von der Grenze aus Deutschland kommt, ist unser Laden der sechste auf der linken Seite. Als wir den Laden im November 2005 aufgemacht haben, gab es schon drei andere mit dem gleichen Sortiment. Inzwischen sind es sieben Läden, die ziemlich dicht beieinander liegen. Die Besitzer sind alle Vietnamesen. Ich glaube, fast alle aus Nordvietnam. Die drei Läden, die dichter an der Grenze sind, sind unsere schärfsten Konkurrenten. Wir haben Stammkunden, die seit zehn Jahren kommen, aber wenn die Konkurrenz 20 Cent billiger verkauft, dann wandern selbst diese Kunden ab. Ich weiß nicht genau, wie die Preise entstehen und auch nicht, ob alle Läden bei dem gleichen Lieferanten einkaufen, aber der Markt ist ganz fair aufgeteilt. Es gibt keine wirklichen Verlierer, aber auch keine wirklichen Gewinner. Ich denke meine Eltern haben es irgendwie geschafft. 

Im Haus gegenüber von unserem konnte man früher Thaimassagen bekommen. Vor ein paar Wochen wurde es geschlossen und seitdem geht das Gerücht um, dass dort eine Stripbar aufgemacht werden soll – dabei gibt es doch schon sechs Stripbars in Rozvadov. Gegenüber der Lion-Bar befindet sich die Polizei und daneben der Kindergarten und die Grundschule.

Wenn man von uns aus den Hügel hinunter fährt, kommt ein Geschäft das Honig verkauft und wenn man weiter hinunter fährt erreicht man Kings Casino. Der Besitzer ist ein Russe, er heißt Leon und er ist tierisch reich. Hier gehen vor allem die Deutschen hin. Samstags finden hier viele Pokerwettbewerbe statt - also ist der Parkplatz voll mit deutschen Luxusautos. Wie ein Autosalon. Gegenüber ist die Konkurrenz von Kings Casino: das american chance casino. Das sieht nicht so luxuriös aus wie das andere. Es war das erste Casino in Rozvadov, läuft aber, glaube ich, nicht so gut wie früher. Trotzdem sind die beiden Casinos die größten Arbeitgeber am Ort.  Neben dem russischen Casino liegt COOP, das einzige Lebensmittelgeschäft. Außerdem gibt es noch einen Kiosk, ein weiterer unserer Konkurrenten. 

Ich bin in einer tschechischen Pflegefamilie aufgewachsen. Ich wollte dort anfangs überhaupt nicht hin, habe geweint und mich gewehrt. Die Wohnung war so klein, das ich sie Mauseloch genannt hab. Aber ich habe mich an alles gewöhnt: an den Tagesablauf mit strengen Schulzeiten; Abendessen mit Salami und Gurken; daran, dass das Gras mit der Sense gemäht wurde und ich es an die Hasen verfüttern sollte; daran, dass ich vor dem Nikolaus Gedichte aufsagen musste um Süßigkeiten zubekommen; und dass ich meine eigene Familie nur am Wochenende gesehen habe. 

Mit elf Jahren bin ich wieder mit meiner Mutter zusammengezogen. Meinen Eltern war es sehr wichtig, dass ich schnell und richtig Tschechisch lerne. Der Preis dafür war, dass ich fast mein Vietnamesisch verlernt habe. Mit meinem Vater spreche ich Tschechisch – wenn ich aber mit meiner Mutter streiten möchte, muss mein Vater übersetzen, oder ich muss aufgeben weil mir die Worte fehlen. Wenn ich mit ihr über Politik sprechen möchte, habe ich zum Beispiel keine Ahnung wie man Sozialistische Republik sagt oder Kommunismus oder Kapitalismus.«

Aus dem Textbuch von Vung Bien Gioi

© privat

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Coop und Kiosk © privat