Kaplan Ha Do´s Reise
Von Sebastian Brünger
Eine sanfte Stille durchzieht die weitläufigen Räume der katholischen Gemeinde St. Martin in Berlin-Reinickendorf. Es ist Freitag Nachmittag und Kaplan Ha Do bereitet sich auf seine vietnamesische Messe am Wochenende vor. Die Hände gefaltet, sitzt er an seinem Schreibtisch, seine warmen Augen fixieren das Kruzifix an der gegenüberliegenden Wand. Seine hohe Stimme sucht vorsichtig nach Worten in einem nahezu fehlerfreien Deutsch, das doch offensichtlich nicht seine Muttersprache ist. Dos ruhiges Lächeln wird im Laufe des nun folgenden einstündigen Gesprächs kein einziges Mal verschwinden, dabei ist die Geschichte seiner Flucht aus Vietnam im Jahr 1982 zu allererst eine Geschichte der Angst.
Seine Eltern kamen aus Nordvietnam wie so viele katholische Vietnamesen, die 1954 nach dem Ende des ersten Indochinakrieges zwischen den Viet Minh und der französischen Kolonialmacht in den Süden des Landes übersiedelten. Fast 500 Jahre hatten insbesondere französische und portugiesische Missionare den Katholizismus in Indochina verbreitet. 1954 nun, mit der Teilung des Landes auf der Pariser Friedenskonferenz, fürchteten viele Katholiken, unter den kommunistischen Viet Minh im Norden ihren Glauben nicht ausüben zu dürfen. Do wurde im tiefen Süden, in Rach-Gia, geboren und ist in Saigon (dem heutigen Ho Chi Minh) aufgewachsen. Sein Vater war ursprünglich Lehrer, arbeitete später im Süden als Ingenieur im Straßen- und Brückenbau.
Bis heute gibt es drei Regionen in Südvietnam, in denen seither noch viele Katholiken leben: nördlich von und direkt in Saigon, und am Fluss Dong-Nai.
Dem Krieg am nächsten hatten sie sich alle zum Tet-Fest 1968 gespürt. Am Morgen waren sie noch in die Kirche gegangen, dann hörten sie Schüsse auf der Straße und als sie herauskamen und schnell nach Hause flüchteten, lagen die Toten auf der Straße.
Nach dem Abzug der Amerikaner 1972 kehrte für die 9-köpfige Familie noch lange kein Friede ein. Die nord- und südvietnamesischen Einheiten bekämpften sich nach kurzer Feuerpause weiter und durch die zum Teil unübersichtlichen Kriegsentwicklungen musste die Familie immer wieder von Ort zu Ort ziehen. Gleichzeitig betreute der Vater in den verschiedenen südlichen Regionen Bauprojekte für US-Firmen und die Familie begleitete ihn.
Am 30. April 1975 war es schließlich so weit: Die nordvietnamesische Armee eroberte Saigon - der Krieg war vorbei. Doch die Angst blieb. "In Deutschland ist die Wiedervereinigung ohne Blut und Hass geschehen, sie haben großes Glück gehabt", meint Do heute. In Vietnam lautete die offizielle Formulierung damals zwar auch "Vereinigung" des Landes, für viele Südvietnamesen bedeutete es jedoch einen radikalen Machtverlust und viele, wie auch sein Vater, hatten Angst, als "Verräter" bzw. "Kollaborateur mit den US-Imperialisten" verfolgt zu werden. Andere Familienmitglieder wie Dos Onkel, der in der südvietnamesischen Armee als Unteroffizier gedient hatte, wurden in einem der berüchtigten Gefangenenlager interniert.
Für Do selbst erreichte der Angstdruck im Jahr 1977 seinen Höhepunkt: Der dritte Indochina-Krieg schwelte an der vietnamesisch-kambodschanischen Grenze und viele junge Südvietnamesen wurden zur Truppenaufstockung herangezogen. Als Do seinen Einberufungsbefehl bekam, war der Schock groß. Nur die wenigsten kamen unversehrt, wenn überhaupt lebend wieder. Die Entscheidung war schnell bei der Hand: Die Familie, das viele Umherziehen gewohnt, würde ans Cap Ca-Mau in den tiefsten Süden ziehen und Do würde sich verstecken. Da der Vater durch seine Bau-Tätigkeit - inzwischen für die vietnamesische Regierung - auch Aufträge am Cap Ca-Mau hatte, war die Gefahr, von misstrauischen Nachbarn denunziert zu werden, kalkulierbar. Zudem sprachen alle Familienmitglieder immer noch den nordvietnamesischen Akzent der Eltern und damit war die Tarnung als zugezogene nordvietnamesische Kommunisten scheinbar sicher. Eine Flucht heraus aus Vietnam, die viele andere Familien im Norden nach China und im Süden mit dem Boot nach Thailand unternahmen, erschien ihnen selbst zum Scheitern verurteilt. Außerdem fehlten ihnen dazu die nötigen Kontakte. Aber auch auf dem Land gab es viele Spitzel und Spione, somit blieben die folgenden Jahre stets gefährlich und sorgenvoll.
Eines frühen Morgens im Jahr 1982 stand plötzlich jener Onkel vor der Tür, der die letzten sieben Jahre im Internierungslager gefangen gewesen war. Er habe seine Flucht von langer Hand geplant, ein Boot würde ihn und weitere Männer über das südchinesische Meer nach Thailand bringen. Für Do und zwei weitere Brüder wären noch Platze frei... "Jetzt oder nie!" Do packte ein paar Sachen zusammen, bekam von seiner Mutter eine kleine Flasche Zitronensaft zugesteckt, steckte eine Goldkette als Faustpfand ein und verließ das Haus.
Im Morgengrauen ging es an der Küste entlang Richtung Gia-Rai, weiter in den Süden. Von dort weiter 20, 30 Kilometer mit dem Auto, bis es das sumpfige Gelände nicht mehr zuließ. Der Treffpunkt waren ein paar Hütten auf einer Landzunge, die man nur mit einem dreistündigen Fußmarsch erreichen konnte. Dort warteten bereits nahezu 40 Personen. Die meisten Anwesenden waren Männer, viele junge Typen wie Do selbst, die auf der Flucht vor dem Militärdienst waren. Aber auch einige Mütter mit Kindern standen in der Gruppe. Ansonsten befand sich nur eine alleinstehende junge Frau unter ihnen. Alle kannten die Horrorgeschichten der Flüchtlinge über die Thai-Piraten, arme Fischer von der thailändischen Küste, die den Flüchtlingsbooten auflauerten. Insbesondere die Frauen hatten Angst vor den oftmals berichteten Vergewaltigungen.
Inzwischen war der Abend herein gebrochen. Im Schutz der Dunkelheit landete ein kleines Motorboot am Strand. Do wurde beim Anblick dieser Nussschale, mit der sie sich nun auf hohe See begeben würden, mulmig: Sie war gerade mal zwei Meter breit und neun Meter lang. Zu nah an der Küste durften sie wegen der Piraten nicht entlang fahren. Do konnte im Gegensatz zu vielen anderen an Bord wenigstens schwimmen. Viel Proviant hatten sie nicht an Bord. Eine Tonne Trinkwasser sollte sich die 40-köpfige Notgemeinschaft teilen, die sich eng aneinander gedrängt auf den Bohlen des Bootes niederließ. Der Motor des Bootes heulte auf und mit seiner schweren Last ging es mit einer Geschwindigkeit von acht Kilometern in der Stunde raus aufs Meer.
Die erste Nacht verlief verhältnismäßig ruhig, auch wenn es empfindlich kühl geworden war. Einigen Personen war auf Grund des Wellengangs schlecht geworden und wer aufs Klo wollte, musste sich am Heck des Bootes über die Reling hocken. Zudem brachte der Wellengang immer wieder Wasser ins Boot, das sie alle mit bloßen Händen herausschöpfen mussten. Auf dem Boden bildete sich nach und nach eine größer werdende Pfütze. Mit Dankbarkeit wurde die aufgehende Sonne aufgenommen, aber bereits am späten Vormittag zeigte sich das Dilemma. Das einzige Dach des Bootes schirmte notdürftig den Motor ab, alle anderen Personen saßen schutzlos in der heißen Sonne.
Dann machten sie eine schlimme Entdeckung: Das Salzwasser des Meeres hatte sich durch die Wellen mit der leckenden Süßwassertonne verbunden - damit waren die Trinkwasservorräte verdorben. Der Kapitän entschied, wieder näher an die Küste zu navigieren, aber auch vorbeifahrende Fischerboote warfen ihnen nur ein wenig Verpflegung herüber. Aufnehmen wollte sie keiner. Do kauerte sich verzweifelt an die Schiffswand und versuchte zu schlafen und zu vergessen.
Plötzlich schreckte Do aus dem Dösen auf und Panik erfüllte das Boot. Ein Schiff mit Thai-Piraten hatte ihr Boot aufgebracht. Eine fremde Sprache gab Anweisungen, die kaum jemand verstand, und ein Sack wurde herumgereicht, in den sie ihre Habseligkeiten werfen sollten. Do nahm geistesgegenwärtig die kleine goldene Kette und presste sie in die Fuge der Schiffsbohlen, auf denen er hockte. Die Piraten durchsuchten die Flüchtlinge, aber die Kette fanden sie nicht. Auch die Frauen an Bord hatten Glück: Die Piraten hatten es nur auf materielle Güter abgesehen.
So fuhren sie zwei Tage weiter. Ab und zu trafen sie auf ein Fischerboot, das sie notdürftig mit Essen und Trinken versorgte. Auch ein weiteres Piratenboot brachte sie ein zweites Mal auf. Aber die Panik an Bord wich immer mehr der Lethargie. Still dämmerten die Flüchtlinge in der gleißenden Sonne dahin. Do betete.
Am dritten Tag der Flucht trafen sie auf ein großes Schiff, das vor ihnen beidrehte. Das Schiff war mit verschiedenen fremden Schriftzeichen versehen und auch die Leute riefen in unterschiedlichen Sprachen herüber. An Bord ihres Bootes wurde es unruhig, als man sie auf das große Schiff einlud. Vielleicht waren es kommunistische Genossen, die Flüchtlinge abfingen? Aber einer der Flüchtlinge konnte Französisch und signalisierte: Keine Gefahr. Do wurde von Frauen mit Decken und Wasser versorgt, und schlief erschöpft ein. Auch nach zwei Tagen auf dem fremden Schiff wusste er immer noch nicht, wohin das Schiff fuhr und wer die Leute an Bord waren. Erst später erfuhr er den Namen des Schiffes, das sie gerettet hatte: Cap Anamur.
Für die drei Deutschen auf der Cap Anamur - den Kapitän, der auch Arzt war und zwei Frauen - war Dos Boot das erste Flüchtlingsboot, das sie aus dem südchinesischen Meer fischten, nachdem sie die Philippinen verlassen hatten. Fast zwei Monate verbrachte Do an Bord der Cap Anamur, nach und nach kamen immer mehr Flüchtlinge dazu. Gegen Ende der Reise waren es fast 250 Personen an Bord. Dabei traf die Cap Anamur auf viele weitere Flüchtlingsboote, aber nur die Notbedürftigsten wurden an Bord genommen. Die anderen kleinen Boote folgten ihnen im Kielwasser und damit unter dem Schutz der Cap Anamur.
Auf einer Zwischenstation der Cap Anamur in Singapur - die Flüchtlinge durften nie von Bord - versprach er einem philippinischen Matrosen seine kleine gerettete Goldkette, wenn der Matrose ein Telegramm für seine Familie nach Saigon schickte. Der Matrose verließ das Schiff und Do hoffte, insbesondere die Sorgen seiner Mutter zu beruhigen.
Im Zielhafen der Cap Anamur auf den Philippinen angekommen, durfte nur ein Teil der Flüchtlinge das Schiff verlassen. Viele hofften auf die Ausreise nach Amerika und Europa. Zwar stand die Cap Anamur in ständiger Verbindung zur deutschen Bundesregierung und den Bundesländern, die nach und nach über Flüchtlingszahlen entschieden, die sie aufnehmen wollten, aber immer wieder wurden Do und anderen Flüchtlingen bürokratische Umstände erklärt und sie mussten warten.
Do selbst musste 14 Monate auf den Philippinen in den verschiedenen Flüchtlingslagern ausharren - die Cap Anamur I war inzwischen wieder nach Hamburg zurückgekehrt - bis sein Name schließlich auf der Liste derjenigen stand, die nach Deutschland reisen durften und laut vorgelesen wurde.
Im Juli 1983 wurde er über Manila und Frankfurt nach Berlin geflogen. In Berlin lernte er das erste Jahr deutsch und begann eine Ausbildung als Energiegeräteelektroniker bei der BVG. Zunächst wollte Do die Schulden für seine Flucht in Vietnam begleichen.
Die Fluchterfahrung und die Rettung durch die Cap Anamur bestärkten Do in seinem christlichen Glauben und aus Dankbarkeit begann er in Berlin, sich auch in der Kirche für Kinder- und Jugendarbeit zu engagieren. So fand er den Weg zum Priestertum, holte das Abitur nach und studierte in Erfurt Theologie. 2001 wurde er schließlich in Berlin zum Priester geweiht. Do ist heute in der Katholischen Gemeinde St. Martin in Berlin-Reinickendorf tätig und betreut insbesondere die vietnamesischen Katholiken der Gemeinde.
Insgesamt haben 38 Personen seines Flüchtlingsbootes überlebt, die meisten haben es wie er nach Deutschland geschafft. Bis heute treffen sie sich regelmäßig einmal im Jahr bei dem ehemaligen Kapitän des Bootes, der inzwischen als Arzt im Ruhestand in der Nähe von Frankfurt lebt.
Auch nach Vietnam ist Do noch einmal zurückgekehrt: Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks öffnete sich auch das sozialistische Vietnam etwas. So flog er 1993 zurück zu seiner Familie und besuchte sein altes Heimatdorf. Eine besondere Freude war die Entdeckung, dass damals in seinem Fluchtjahr 1982 in Saigon tatsächlich ein Telegramm für seine Familie eingetroffen war. Der philippinische Matrose hatte Wort gehalten: Ein Telegramm ohne Absender und weitere Angaben mit den Worten "Wir sind gut angekommen."
Sebastian Brünger
Jahrgang 1979, studierte BWL und Politikwissenschaft in Mannheim und Baltimore. Nach Engagements als Dramaturgie- bzw. Regieassistent am Nationaltheater Mannheim und Schauspielhaus Düsseldorf seit 2007 Dramaturg des Theaterkollektivs Rimini Protokoll.