Rettung aus der Hölle von Pulau Bidong
Im Sommer 1979 genügte Schreiben allein nicht mehr. Die ZEIT holte 275 vietnamesische Flüchtlinge nach Hamburg
Von Gabriele Venzky
Nirgendwo auf der Welt sind Flüchtlinge willkommen. Auch in Deutschland nicht. Sieben Millionen Vertriebene am Ende des Zweiten Weltkriegs, fast sechs Millionen Flüchtlinge aus der DDR: Niemandem ist Flucht geläufiger als uns. Aber selbst die eigenen Landsleute wurden meist nur zähneknirschend aufgenommen.
Dann geschah 1979 etwas Einmaliges in der Geschichte der Bundesrepublik. Während sich unsere Politiker noch mit erfüllten Quoten und überfüllten Aufnahmelagern herausredeten, ergriff die Bevölkerung die Initiative. Sie entschied sich, Fremden, Unbekannten zu helfen. Mit einer noch nie erlebten Herzlichkeit und spontanen Hilfsbereitschaft wurden Menschen aufgenommen, die niemand sonst haben wollte. Das ist die Geschichte der vietnamesischen Boatpeople, und die ZEIT spielt dabei eine nicht ganz unwichtige Rolle. Es ist die Geschichte der Menschen, die sich in unsere Herzen gelächelt haben.
Es begann 1978. Der Vietnamkrieg war seit drei Jahren vorbei. Die Bilder von den letzten aus Saigon abhebenden amerikanischen Hubschraubern, an deren Kufen sich panische Menschen klammerten, waren noch frisch im Gedächtnis, auch die von der Flüchtlingswelle danach. Aber nun abermals: Ein nicht abreißender Strom von Menschen versuchte Vietnam zu verlassen, diesmal über das Meer.
In kleinen, hoffnungslos überladenen Booten fuhren sie ins Ungewisse, ohne Karten und Kompass, wurden schließlich an die Strände Südostasiens gespült und an die Felsen vor Hongkong – wenn sie Glück hatten. Viele hatten kein Glück. Sie wurden vergewaltigt, erschlagen, über Bord geworfen, ertranken. Jedes zweite Flüchtlingsboot im Südchinesischen Meer wurde von Thai-Piraten überfallen. Jeder dritte Flüchtling kam um, etwa eine halbe Million Menschen, schätzt man heute.
Aus meiner Kinderzeit erinnere ich mich an ein Foto, das an der Wand meines Schulkorridors hing. Es zeigte einen mit Menschentrauben vollgepackten Seelenverkäufer namens Exodus, auf dem mehr als 4500 Überlebende des Holocausts versuchten, nach Palästina zu gelangen, wo sie nicht an Land gelassen wurden. Genau solche Bilder bekam ich nun, ein Vierteljahrhundert später, auf den Schreibtisch. Die verzweifelten Menschen waren diesmal Vietnam-Chinesen. In der ZEIT-Redaktion war ich damals zuständig für Südostasien. So landeten auch die Tickermeldungen mit den neuesten Zahlen dieses erschreckenden Massenexodus bei mir.
Von Woche zu Woche wurde der Stapel dicker, den ich in unsere Konferenzen trug. Ende 1978 drängten sich bereits 62000 Boatpeople in den Lagern Südostasiens, und ein Ende war nicht abzusehen. Die Politische Redaktion der ZEIT setzte sich bestürzt zusammen. Musste man die Welt nicht aufrütteln? Wir schrieben und schrieben, ein ganzes Dossier gab ich unseren Lesern mit ins Jahr 1979. Denn jetzt begann man tageweise zu zählen: eintausend Flüchtlinge, zweitausend, viertausend, und das waren nur die, die es geschafft hatten.
Die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen (UNHCR) kapitulierte vor dieser Völkerwanderung. Die südostasiatischen Staaten auch. Sie begannen, sogar leckgeschlagene Flüchtlingsboote wieder aufs offene Meer hinauszuschleppen, als leichte Beute für die Piraten und in den fast sicheren Tod. Derweil konferierten die Politiker im Westen, absurde Pläne wurden diskutiert. Sollte man nicht irgendwo eine Insel für die Flüchtlinge kaufen? Die könnten da doch ein zweites Singapur aufmachen. Mittlerweile ahnte man, dass die vietnamesischen Kommunisten offenbar die gesamte chinesische Bevölkerung loswerden wollten, eineinhalb Millionen Menschen.
Eines Tages tauchte ein Schiff namens Hai Hong auf den Fernsehschirmen auf. So etwas hatte die Welt seit der Exodus nicht mehr gesehen: einen Frachter, genauer ein Wrack, auf dem jeder Zentimeter mit Menschen belegt war, 2500 kranke, verhungernde, verdurstende Menschen. Kein Staat wollte die Passagiere an Land lassen, wochenlang irrte das Schiff ziellos umher.
Die Hai Hong wurde zum Wahrzeichen der Katastrophe. Hongkong- Syndikate hatten sie und andere Schrottschiffe für eine Handvoll Dollar gekauft, um dann »heimlich«, in Wahrheit unter Aufsicht vietnamesischer Behörden, fluchtwillige Chinesen an Bord zu nehmen. Zehn Millionen Dollar brachte allein die menschliche Fracht der Hai Hong. Darum entschloss sich Vietnam bald, das Geschäft allein zu machen, diesmal mit den berüchtigten kleinen Booten. Zehn bis zwanzig Tael Gold wurden pro Person kassiert (ein Tael sind rund 37 Gramm), sodass eine Großfamilie leicht mehrere Kilo bezahlen musste. Fast die ganze Mittelklasse Vietnams wurde erst zur Kasse gebeten und dann auf offener See ihrem Schicksal überlassen.
Die aber, die überlebten, wollte niemand haben. Für viele ehemalige Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufer war die Sache klar: Wer so viel Gold besaß, um sich freizukaufen, der konnte eigentlich nur ein Parasit des imperialistischen USA-Kriegs sein, ein Bordellbesitzer oder ein Ausbeuter des eigenen Volkes. Für die DDR, wo Arbeiter aus Vietnam schuften mussten, weil Hanoi kein Geld hatte, um für sogenannte solidarische Dienstleistungen zu bezahlen, gab es ebenfalls kein Flüchtlingsproblem. Spitzfindige westliche Politiker kamen zu dem gleichen Ergebnis, indem sie sich der Argumentation der Südostasiaten anschlossen: Wer für seine Flucht bezahlt, fällt in die Kategorie illegaler Einwanderer. Also kein Asyl.
Erst als sich Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht unter dem Eindruck der unerträglichen Bilder von der Hai Hong bereit erklärte, in seinem Bundesland 1000 Flüchtlinge von diesem Schiff aufzunehmen, erklärte sich die Bundesregierung bereit, »später« noch 900 weitere Flüchtlinge ins Land zu lassen. Allein auf der Insel Pulau Bidong drängten sich da schon 40.000 Boatpeople.
Bidong war neben der Hai Hong das Synonym Nummer zwei für das Flüchtlingsdrama, ein Steilhang im Meer, 15 Meilen vor der malaysischen Küste, unbewohnt, weil es kein Wasser gab. Aber jetzt: 40.000 Menschen auf nur einem Quadratkilometer. Im Juni 1979 kündigten die südostasiatischen Staaten an, dass sie niemanden mehr aufnehmen würden, wenn ihnen die 300.000 Flüchtlinge in ihren Ländern nicht endlich zügig von den westlichen Industrienationen abgenommen würden. Malaysia hatte in diesem Monat bereits 54.000 Menschen in ihren Nussschalen wieder auf See hinausgeschleppt, nun sollten weitere 76.000 vorübergehend Aufgenommene ins todbringende Meer gekippt werden. Tausende, deren Boote nur 50 Meter vor dem rettenden Strand in der Brandung kenterten, ertranken, weil niemand ihnen zu Hilfe kam.
In diesen Tagen kam unser ZEIT -Kollege Josef Joffe mit furchtbaren Eindrücken aus Pulau Bidong zurück. Sein Bericht Stehplatz in der Hölle war keine Übertreibung. Aber immer noch zögerten die Bundesländer. Wer sollte das alles bezahlen? Immerhin waren da doch noch die 60000 Spätaussiedler und 33.000 Asylsuchende. In der ZEIT -Redaktion diskutierten wir tagelang darüber, was wir tun könnten, um die Bundesrepublik zu bewegen, endlich großzügig zu sein. Schreiben allein, das war uns klar, genügte nicht mehr.
»Jetzt müssen wir handeln. Wir müssen Flüchtlinge aus Bidong holen«, entschied unsere Herausgeberin Marion Dönhoff, setzte sich hin und verfasste einen Leitartikel, in dem sie zu Spenden aufrief. Die Resonanz war überwältigend. Innerhalb kurzer Zeit gingen über zwei Millionen Mark ein. Eine halbe Million gab der Industrielle Kurt A. Körber, fünf Mark kamen aus dem Sparschwein von zwei kleinen Mädchen, ein Frauengefängnis schickte 30 Mark in Briefmarken.
Die ZEIT hatte im Juli mit dem Hamburger Senat Kontakt aufgenommen. Der sollte für Aufnahme und Integration sorgen, wir würden das Geld für den Anfang und auch für den Transport nach Hamburg bezahlen. Und siehe da, wir bekamen grünes Licht für 250 Boatpeople. Am 2. August landeten meine ZEIT- Kollegin Margrit Gerste, der bekannte Fotograf des Vietnamkriegs Hilmar Pabel, zwei Rotkreuzler, die die Leute auswählen sollten, und ich auf Pulau Bidong, in der Hölle. Unerträglicher Gestank, denn es gab nur vier Latrinen, unerträgliche Enge, unerträgliche Hitze, und am Strand, hinter den Gerippen der Flüchtlingsboote, eine Armada malaysischer Kanonenboote.
Drei Stunden hatte die Überfahrt gedauert, drei Stunden lang würde es zurückgehen, zwei Stunden auf der Insel waren erlaubt, denn über Nacht durfte kein Ausländer bleiben. Wie sollte man da arbeiten? Wir wollten hoffnungslose Fälle mitnehmen, Menschen, die niemand nahm: Großfamilien, unbegleitete Jugendliche, Leute, die keine westliche Sprache sprachen, die keine Verwandten in Übersee hatten, die alt oder krank waren. Hilmar Pabel und ich entschlossen uns deshalb, in der Masse der Flüchtlinge unterzutauchen und zu bleiben, um hinter die Kulissen der vorzüglich organisierten Selbstverwaltung zu blicken. Diese Tage auf der Insel des Todes werde ich nie vergessen.
Die Flüchtlinge versuchten, uns das Leben so angenehm wie möglich zu machen, und teilten ihre kärglichen Rationen mit uns. Wir entdeckten, dass mehrere Familien nicht mit all ihren Mitgliedern in unseren Aufnahmelisten standen. Als wir am 7. August auf zwei ehemaligen Flüchtlingsbooten in Richtung Transitlager fuhren, hatten wir deshalb 274 statt 250 Menschen an Bord. Der spätere Erste Bürgermeister Ortwin Runde, damals in Hamburg unser Ansprechpartner, war schließlich auch mit dieser Zahl einverstanden.
Am 13. August 1979, dem Tag, an dem die Cap Anamur im Südchinesischen Meer ihre Hilfsaktion aufnahm, hob die erste Maschine mit unseren Flüchtlingen in Kuala Lumpur ab, zwei Tage später die zweite. 274 Menschen und noch ein Baby, das auf dem Weg geboren wurde, waren gerettet. Aber was noch wichtiger war: Wir hatten den Durchbruch geschafft. Die Bundesrepublik entschloss sich, Boatpeople aufzunehmen.
40.000 Vietnamesen, die in der Mehrzahl eigentlich Chinesen waren, fanden in Deutschland eine neue Heimat. Damals hatte mancher geunkt: »Die werden noch in 50 Jahren nicht integriert sein.« Welch ein Irrtum!
Fleißig und bescheiden haben sie sich in den vergangenen 30 Jahren hochgearbeitet, die meisten von ihnen leben heute im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung, Sozialhilfe ist für sie ein Unwort. Ihre Kinder triezen sie so lange, bis sie nur noch Einsen und Zweien nach Hause bringen, der Anteil der jungen Vietnamesen unter den Abiturienten ist höher als bei Deutschen. Diejenigen, die damals noch klein waren, und erst recht die nächste Generation sprechen akzentfrei Deutsch. Die Geschichte der Boatpeople ist eine Erfolgsstory.
Wir sitzen in dem kleinen Haus von Van Si An, einem ehemaligen Millionär aus Saigon. Van wurde in Hamburg Busfahrer. Seine drei Kinder haben studiert. Zwei wurden Apotheker, der Dritte ist Diplomkaufmann, vier kleine Enkelinnen toben durchs Zimmer. Man engagiert sich ehrenamtlich bei den Vans, Sohn Van Huy Tam ist sogar kommunalpolitisch aktiv und hilft in der Freizeit bei Integrationsproblemen in Schulen. »Wir möchten etwas zurückgeben.« Mit am Tisch sitzt, hoch in den Achtzigern, Gerhard Katsch. Vor 30 Jahren hat er beim Start in der neuen Heimat geholfen, heute sind die Vans für ihn da, wenn er Hilfe braucht.
Auch ich habe zu unseren Flüchtlingen noch immer Kontakt, manche sind Freunde geworden. In meiner Wohnung hängt eine schöne Kalligrafie, die mir einer von ihnen geschrieben hat. Es geht da um die Geschichte unserer Boatpeople, und ein Satz sticht hervor: »Sie haben uns überleben lassen. Dank an die ZEIT.«
Copyright: DIE ZEIT, 13.08.2009 Nr. 34
Dr. Gabriele Venzky war zehn Jahre außenpolitische Redakteurin und danach über 20 Jahre Asienkorrespondentin der Wochenzeitung DIE ZEIT und hat sich in dieser Funktion ausführlich mit dem Vietnam-Krieg und seinen Folgen beschäftigt.