Peymannbeschimpfung - ein Training

Von Helgard Haug / Daniel Wetzel

30 Jahre sind vergangen und allerorts werden die Akten noch einmal geöffnet: Buback, Schleyer sowie Klein und auch die 4 Leitzordner, die das Theater um die ‚Zahnspendenaffäre' dokumentieren. 

Ilse Ensslin, die Mutter von Gudrun, hatte einen "wackeren" Zahnarzt bewegen können, in die JVA Stammheim zu gehen und den inhaftierten RAF-Mitgliedern die brüchigen Gebisse zu sanieren. "Der Staat ersetzt nur sog. konservierende Behandlungen und diese nur zu einem Drittel", weswegen Kosten von 10.000 DM entstanden waren, die der Zahnarzt erstattet bekommen sollte. Nachdem die meisten Angehörigen der Gefangenen Geld beigesteuert hatten, blieb noch "ein ungedeckter Rest von DM 4.500 DM". Sie bat 65 Prominente um einmalige Spenden, so auch den Stuttgarter Schauspielhausintendanten Claus Peymann. Er spendete ca. 100 DM und liess den Spendenaufruf Ensslins ans weiße Brett für betriebsinterne Ankündigungen hängen mit einem Vermerk: "Wer Geld überweisen möchte kann bei Frau Noack abgeben! C.P." - Einige Monate später - nach der Ermordung Jürgen Pontos und der Entführung Hanns Martin Schleyers-, kamen Sekretärin Noack und die anderen Mitarbeiter der Theaterleitung aus dem Lesen nicht mehr heraus: Zum Auftakt der Spielzeit im Herbst 1977 starteten mehrere Blätter ein Desinformations-Komplott - 10.000 DM sollte Peymann gesammelt haben "für Gudrun Ensslin", eine Waffe sollte zeitgleich unter den Augen des ‚Sympathisanten' aus dem Fundus des Theaters entnommen worden sein und schließlich bei dem Attentat auf die Deutsche Botschaft in Stockholm zu Einsatz gekommen sein, ein Theaterstück von Ulrike Meinhof sollte beinah auf den Spielplan des Staatstheaters geraten sein...
Hunderte von Bürgern machten in ihren Briefen, Karten und Telegrammen an Peymann daraufhin ihre eigene Rechnung auf.
Wie viel will man wissen, bevor man übergeht zu Hass, Fluch und sprachlicher Gewalt, zu Zynismus und Hetzerei? Wie freiheitlich-demokratisch und
rechtsstaatlich klingen die Stimmen unbescholtener Bürger nach der Lektüre von ein paar Enten aus BILD und QUICK? Von wessen Dramaturgie ist die Affäre bestimmt? Und wie wird die Verunsicherung und Hitzigkeit der Bürger ausgenutzt, um ‚große Politik' zu machen? "Peymannbeschimpfung" macht die schriftliche Schlammlawine, die über Peymann ausgegossen wurde und die vom Baden-Württembergischen Landesarchiv aufbewahrt wurde, zum Gegenstand einer "szenischen Lesung", die eine Versuchsanordnung ist. Denn
Helgard Haug und Daniel Wetzel stellen die Bühne, die sie für diese Texte nicht brauchen, zeitgleich dem Turnverein Stammheim zur Verfügung, der der allgemeinen Aufarbeitungslust eine andere hinzugesellt: Den Spaß am Feierabendsport, mitten im Leben, 1977 wie 2007, ein paar hundert Meter Luftlinie von der JVA Stammheim entfernt, an der selben Straße gelegen: Der Solitudeallee.

 

Von: Helgard Haug, Daniel Wetzel
Mit: Mitgliedern des TV Stammheim und Angestellten der Staatstheater Stuttgart
Premiere: Schauspiel Stuttgart, Festival „Endstation Stammheim“, 22. September 2007