Radio Muezzin

Von Stefan Kaegi

Zum ersten Muezzin wurde ein freigelassener Sklave, weil er eine honigsüße Stimme hatte. Noch bis in die 50er Jahre stiegen oft blinde Muezzine auf das Minarett, um den Gebetsruf, den Adhan, in alle vier Himmelsrichtungen über die Stadt zu rufen.
Im heutigen Kairo sind die meisten Muezzine Staatsangestellte, die oft in der Moschee schlafen und nur selten ihre Familie, die noch im Dorf wohnt, besuchen. Neben dem Ausrufen sind sie oft auch die Hausmeister des Gotteshauses, schließen auf und organisieren die Reinigung.
Über Kairo, der „Stadt der Tausend Moscheen“ (in Wahrheit sind es um die 30.000) vermischen sich die Rufe zu einem vielfältigen Klangteppich. Das soll sich jetzt ändern: Der Minister für religiöse Stiftungen will bis Ende des Jahres den zentralisierten Muezzin einführen. Über einen Radiosender sollen um die 30 auserwählte Ausrufer über einen Radiokanal gesendet und aus allen staatlichen Moscheen gleichzeitig übertragen werden. Damit wird zwar nicht die Vielfalt der Gebetskulturen, aber doch die Kakophonie abgeschafft. Und tausende von ägyptischen Muezzinen verstummen?
Im Zentrum von „Radio Muezzin“ stehen vier Muezzine: ein blinder Koranlehrer, der jeden Tag zwei Stunden mit dem Minibus zur Moschee fährt; ein oberägyptischer Bauerssohn und ehemaliger Panzerfahrer, der den Teppich seiner Moschee saugt; ein Elektriker, der nach einem Gastarbeiterleben in Saudi Arabien und einem schweren Unfall begann, den Koran zu rezitieren, und ein Bodybuilder und Vizeweltmeister im Koranzitieren, dessen Korankassetten sich unter Taxifahrern großer Beliebtheit erfreuen. „Radio Muezzin“ lässt sie einem Ingenieur begegnen, der am Assuan-Staudamm gelernt hat, Radiosignale zu verschlüsseln. In einer Moschee aus Teppichen und Ventilatoren werden sie zu Hauptdarstellern einer Rekonstruktion ihres Lebens, zu Ich-Vertretern einer religiösen Kultur, deren vielfältige Gesichter in Europa oft auf einfache Feindbilder reduziert werden. Zwischen ihren Worten und den Videobildern ihres Alltags entstehen neue Stimmbilder, die von der Transformation des Gebetsrufs im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erzählen.

 

Mit:
ABDELMOTY ABDELSAMIA ALI HINDAWY
HUSSEIN GOUDA HUSSEIN BDAWY
MANSOUR ABDELSALAM MANSOUR NAMOUS
MOHAMED ALI MAHMOUD FARAG
SAYED ABDELLATIF MOHAMED HAMMAD


Konzept und Regie: Stefan Kaegi
Komposition und Musik: Mahmoud Refat
Video Design: Bruno Deville, Shady George Fakhry (Kairo)
Dramaturgie: Laila Soliman
Bühnenbild: Mohamed Shoukry
Licht: Sven Nichterlein, Saad Samir Hassan (Kairo)
Assistenz: Dia'Deen Helmy Hamed
Produktionsleitung: Juliane Männel, Lana Mustaqh (Kairo)
Tourbegleitung: Mohamed Sleiman
Technische Leitung: Sven Nichterlein, Saad Samir Hassan (Kairo)
Übersetzung/Übertitelung: Ebtihal Shedid, Bassant Hassan (Kairo)

Eine Produktion von HAU Berlin und Goethe-Institut Ägypten.
In Koproduktion mit Athens Festival, Bonlieu Scène nationale Annecy, Festival d’Avignon, steirischer herbst festival (Graz) und Zürcher Theater Spektakel.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung und den Regierenden Bürgermeister von Berlin Senatskanzlei Kulturelle Angelegenheiten.
In Zusammenarbeit mit El Sawy Culturewheel, Kairo.