Cargo Sofia-X

Eine europäische LastKraftWagen-Fahrt

Von Stefan Kaegi

Mit 2 bulgarischen LKW-Fahrern und - je nach Aufführungsort - Berliner Fleischspediteuren, südfranzösischen Gemüsegroßhändlern, Warschauer Logistikern, Essener Autobahnpolizisten, serbischen
Verkehrsplanern, madrilenischen Magazinarbeitern oder Dubliner Hafenarbeitern.

Sie tragen ihre Vornamen direkt hinter der Windschutzscheibe, sitzen 2 Meter über der Strasse und haben 500 PS unter dem rechten Fuss. Sie haben alle Länder Europas gesehen, aber kennen Städte nur von ihren Ausfahrtsschildern. Regionale Unterschiede bemessen sie an der Imbissbude neben dem Autobahnklo: Bulgarische Fernfahrer haben den Osten mit Jeans und Pornoheften und den Westen mit bulgarischem Tee und polnischem Gemüse versorgt. In der erweiterten europäischen Union sind sie die nomadischen Maulesel des Güterverkehrs, arbeiten und wohnen auf weniger als 6 mobilen Quadratmetern vor ihren 40 Tonnen Fracht.

In Truckermagazinen und Countryliedern werden sie als Cowboys der Strasse gefeiert. Das Institut für Fahrzeugsicherheit in München ermittelte in einer Umfrage, dass sich weniger als 25 Prozent der LKW-Fahrer anschnallen. In Deutschland werden nach der letzten ADAC-Untersuchung jährlich 350 Mensch bei LKW Verkehrsunfällen verletzt und 20 getötet. Dabei folgen sie längst einem automatischen Geschwindigkeitsbegrenzer, dem GPS-Navigator, den Gesetzen der Maut und den Auflagen der Spedition: Zeit ist Geld und Leerkilometer darf es nicht geben. Ob Papier, Fleisch oder Stahlrohre - alles Termingeschäft. Der Kunde bestellt erst, wenn er die Ware braucht. Das grösste Lager ist mittlerweile die Autobahn.

Bis zum Jahr 2015 soll der LKW-Verkehr noch einmal um 60 Prozent zunehmen. Dann wird der europäische Markt 540 Millionen Menschen einschliessen. Darin werden Lastwagen, Schiffe und Züge freien Güterverkehr betreiben. Landkarten werden dann durch GPS-Systeme ersetzt sein - und vielleicht Lastwagenfahrer durch Autopiloten, die von selbst den Sicherheitsabstand einhalten...


Das Projekt

Stefan Kaegis LastKraftWagen ist ein gelebtes räumliches Modell. Ein orts-spezifisches Stück für europäische und angrenzende Städte.

Im Frühling 2006 wird ein bulgarischer Lastwagen so umgebaut, dass er statt Ware Erzählungen transportiert. Der Lastwagen dient zwei Fernfahrern, dem Regisseur, einem Video- und einem Sounddesigner einerseits als Wohnmobil, andererseits als Beobachtungs- und Repräsentationsvitrine ihres nomadischen Blicks auf Europa.

Abends ist der LKW mobiler Zuschauerraum mit einem Schau-Fenster auf einer Seite des Trucks. Wo Ware war, sitzt nun das Publikum und blickt verfremdet zurück auf die Stadt. So dient der Lastwagen als Beobachtungsstation, Theatersonde, mobiler Guckkasten, der sich auf Städte richtet wie ein Mikroskop.
Vor einem Theater oder Festivalzentrum werden 45 Zuschauer geladen und auf eine 2stündige Reise durch vergessene Strecken geschleust: Autobahnraststätten, Verladerampen, Gemüsegrossmarkthallen, Häfen, Grenzposten, Lagerhallen... In diesen Ready-Made-Bühnenbildern des Transits treten die Fernfahrer mit ihren Geschichten auf. Sie erzählen ihre mobilen Biographien und Frachtgeschichten in autobahntypischem Bulgarisch-Englisch-Deutsch via Mikroport – im Dialog mit lokalen Gemüseverkäufern oder Spediteuren, Zollbeamten oder Lageristen.
Das Publikum reflektiert zu Balkankompositionen praktisch im Rückspiegel die Ware, an derer Stelle es sitzt. Dabei sind die Stimmen der Fahrer aus der Fahrkabine zu hören als Ich-Erzähler der Strasse. Streckenweise rollt sich vor dem Fenster eine Leinwand aus und ergänzt die Zentralperspektive des Mittelstreifens mit Videoerinnerungen aus dem Archiv.

 

Von: Stefan Kaegi
Co-Regie: Jörg Karrenbauer

Mit: Ventzislav Borissov, Nedyalko Nedyalkov, Svetoslav Michev (alle drei bulgarische LKW-Fahrer) und je nach Aufführungsort: Berliner Fleischspediteuren, südfranzösische Gemüsegrosshändlern, Warschauer Logistikern, Essener Autobahnpolizisten, serbischen Verkehrsplanern, madrilenischen Magazinarbeitern, Dubliner Hafenarbeitern u.a.
Video: Vladimir Miller oder Anja Mayer
Ton: Florian Fischer oder Simon Begemann
Produktionsleitung: Anne Schulz
Produktion: Goethe-Institut Sofia, Hebbel am Ufer Berlin.
Koproduktion: Theater Basel, PACT Zollverein Essen, Le-Maillon Straßburg und THEOREM, European association supported by the Culture 2000 program of the European Union.
Mit finanzieller Unterstützung vom Stabilitätspakt für Südosteuropa, gefördert durch Deutschland, der Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung, der Bundeszentrale für politische Bildung und Forum Goethe-Institut.

Premiere: Basel, 31.Mai 2006

Siehe Videobeitrag auf:

http://www.delfi.ee/archive/article.php?id=18362290