Hitler-Theaterprojekt: "Um ein Flüchtlingsheim anzuzünden, muss man nicht 'Mein Kampf' lesen"

Von Anke Dürr

08.01.2016 / SPIEGEL ONLINE

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Die Gruppe Rimini Protokoll besteht aus den Theatermachern Helgard Haug, 46, Stefan Kaegi, 43, und Daniel Wetzel, 46. Mit ihrer spielerischen Form des Dokumentartheaters (neuerdings auch "Recherchetheater" genannt) haben sie die deutsche Theaterlandschaft nachhaltig beeinflusst. Auf der Bühne stehen bei ihnen keine Schauspieler, sondern sogenannte "Experten des Alltags", die sich selbst darstellen; es geht immer um eine persönliche Perspektive auf das Thema. Die Berichte und Anekdoten aus dem wahren Leben verdichten Wetzel und Haug erst während des Probenprozesses zu einem Stück. Ihre Performances, begehbaren Installationen und Inszenierungen im öffentlichen Raum wurden mehrfach ausgezeichnet; ebenso ihre Hörspiele.
Die Mitglieder von Rimini Protokoll haben in den Neunzigern zusammen am Institut für angewandte Theaterwissenschaft Gießen studiert. Sie arbeiten mal zu dritt, mal zu zweit oder auch allein an ihren Projekten. "Mein Kampf" wurde von Haug und Wetzel entwickelt, gemeinsam mit dem Dramaturgen Sebastian Brünger und den Darstellern. Die Inszenierung kam im September in Weimar heraus.

SPIEGEL ONLINE: Frau Haug, Herr Wetzel, wie kamen Sie auf die Idee, "Mein Kampf" zum Hauptdarsteller Ihres aktuellen Theaterprojekts zu machen?

Haug: Uns hat vor allem der Umgang mit diesem Buch nach 1945 interessiert: Wie gehst du mit einem Werk um, das nicht nur ein Buch ist, sondern ein Symbol, das für eine Zeit und eine Gesinnung steht - und dann will man es loswerden? Der Anlass war natürlich, dass es ab diesem Jahr gemeinfrei ist, also die Urheberrechte 70 Jahre nach dem Tod des Autors erloschen sind und es jetzt im Prinzip jeder drucken darf.

SPIEGEL ONLINE: Es ging Ihnen also um eine Entmystifizierung von "Mein Kampf"?

Haug: Ja, die Absicht war, dem Buch die Kraft zu rauben, indem wir es öffnen und uns darin bewegen, ohne im Vorhinein eine Meinung zu haben, hinter der wir uns verschanzen können. Wir haben bei uns selbst feststellen müssen, dass es uns an Erfahrung mit dem Buch fehlt, dass wir gar nicht wissen, wie es funktioniert, welche Gefahr tatsächlich von ihm ausgehen könnte. "Böse, böse" kann man dann immer noch sagen.
Wetzel: Natürlich gab es auch bei uns Berührungsängste. Das ging schon los bei der Betreffzeile für E-Mails zu dem Projekt: Darf man da jetzt "Mein Kampf" schreiben? Eine Zeitlang hieß es bei uns nur "Kämpfle" oder "MK". Aber schließlich haben wir uns auch im Zug ganz normal über "Mein Kampf" unterhalten.

SPIEGEL ONLINE: Aber ein ganz normales Buch wird die "Braune Bibel" wohl nie werden, oder?

Wetzel: Darum geht es auch nicht. Unser Stück ist ein Beitrag zu der Frage: Wie gehen wir in Deutschland mit dem Nationalsozialismus um? Dass jetzt das Scheinverbot von "Mein Kampf", das durch das Urheberrecht bestanden hat, aufgehoben ist, ist der Lackmustest: Wie geht unsere Gesellschaft damit um? Dahinter steht die Frage, die sich immer stellt, wenn es um Zensur geht: Wie viel Wirkungsmacht hat ein Buch? Wie antwortet eine Gesellschaft auf einen Text? Wo ist das Selbstvertrauen?

SPIEGEL ONLINE: In Ihren Augen ist das Buch also nicht gefährlich?

Haug: Um ein Flüchtlingsheim anzuzünden und in öffentlichen Veranstaltungen Volksverhetzung zu betreiben, muss man nicht "Mein Kampf" lesen. Das wäre ein Kurzschluss, so zu denken. Wenn man Experten für die rechte Szene fragt, wo ist da eigentlich für Neonazis was drin zu finden, dann sind das nicht die antisemitischen Stellen oder die über "Volk und Rasse", das gibt es in anderen, frei zugänglichen Büchern viel extremer. Es sind die Stellen, die Demokratie und Parlamentarismus infrage stellen oder sich darüber lustig machen. Das kann tatsächlich eine große Gefahr sein. Es ist wichtig, sich die Begrifflichkeiten und die Sprache genauer anzuschauen und sensibel dafür zu bleiben. Wenn Pegida heute über die Lügenpresse hetzt, dann ist das eben nicht weit entfernt von den "Presselumpen" und der "Schmutz- und Schundpresse", wie es in "Mein Kampf" heißt.

Wetzel: Die Argumente, die Thilo Sarrazin benutzt hat, die finde ich da auch drin. Dass einem das so bekannt vorkommt, ist zwar interessant, aber genau deswegen müsste ich eigentlich nicht mehr "Mein Kampf" lesen - es sei denn, ich will genau darauf hinweisen. Es gibt diesen Mythos, dass man quasi sofort infiziert wird, wenn man in das Buch nur reinschaut. Das hat was mit diesem ganzen biologistischen Denken zu tun. Und vielleicht mit einer berechtigten Sorge. Aber nicht jeder, der "Mein Kampf" liest, wird zum Nazi. So wie ja auch nicht alle, die Egoshooter spielen, gleich zu Attentätern werden, sondern umgekehrt: Eventuell spielen Attentäter ebenfalls Egoshooter-Spiele.

SPIEGEL ONLINE: Dass Hitlers 800-Seiten-Buch einen sofort mitreißt, ist ja auch deshalb unwahrscheinlich, weil es angeblich so schlecht geschrieben und praktisch unlesbar ist. Ging Ihnen das auch so?

Wetzel: Den Text zu lesen, ist anstrengend, man muss sich permanent überwinden - sich darin zu orientieren, ist aber sehr einfach: Er hat einen ausführlichen Index und jede Seite markiert, worum es da geht. Dass er wirr und unlesbar sei, haben komischerweise vor allem Männer behauptet, mit denen wir gesprochen haben. Und dann gab es zwei Frauen, die sagten: Nein, "Mein Kampf" ist nicht schwer zu verstehen und in seinen Aussagen alles andere als wirr. Eine davon ist die Juristin Sibylla Flügge, die bei uns auch als Expertin auf der Bühne steht. Sie erzählt davon, wie sie das Buch schon als 14-Jährige gelesen und zusammengefasst hat. Sie sagt, "Mein Kampf" ist kein Buch, das verführt, sondern es ist ein Buch für Verführer. Es ist ein Plädoyer für den Hass als Mittel, unübersichtlich.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie: Wird es "Mein Kampf" in Deutschland auf die Bestsellerlisten schaffen?

Wetzel: Niemals. Der Text wird neben anderem historischen Schund, der ohnehin verkauft werden darf - Hitlers Reden, Goebbels' Reden und so weiter -, sicher seine Irrelevanz unter Beweis stellen. Aber das ist nicht der Punkt. Das Buch war immer da! Verfügbar für alle, die es lesen wollten. Wegducken hilft nichts. Hinschauen und klar antworten war schon immer die bessere Strategie.

Haug: Spannender ist die Frage, wie die Gerichte beurteilen, ob das Buch volksverhetzend ist. Bisher gab es zu "Mein Kampf" und Volksverhetzung noch keine höchstgerichtliche Entscheidung. Das muss neu verhandelt werden. Es gab zwar Einzelfälle, wo zum Beispiel ein erschütterter Bürger jemanden anzeigte, weil der "Mein Kampf" auf dem Flohmarkt verkaufte. Das wurde aber abgewiesen mit dem Argument, dass das Buch vorkonstitutionell ist: Es ist vor dem Grundgesetz entstanden, also kann es nicht gegen unser jetztiges Grundgesetz verstoßen.

SPIEGEL ONLINE: Wenn wie jetzt beim Gastspiel im Berliner HAU groß über dem Eingang die Schrift leuchtet: "Adolf Hitler: Mein Kampf", wie wirkt das auf Sie?

Wetzel: Na ja, wir geben dem Buch auf jeden Fall eine Bühne. Dieses Dilemma bleibt. Aber das ist nicht unseres, es ist ein gesellschaftliches Dilemma und Hinschauen ist eine gesellschaftliche Aufgabe.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben Ihre Inszenierung schon in verschiedenen Städten gezeigt. Wie haben die Zuschauer reagiert?

Wetzel: Die Aufführungen werden sehr wohlwollend und interessiert aufgenommen - manchmal wird gemosert, gerade in den Rezensionen, dass man's gern etwas provokanter hätte. Das versteh ich in dem Zusammenhang überhaupt nicht, und leider wieder doch. Wir sind gespannt, auf die Aufführungen im April in Athen, wo die Verbrechen der Deutschen nach wie vor sehr im Gedächtnis der Menschen sind.


Projekte

Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2