Von Gerald Siegmund
12.11.2000 / Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung
FRANKFURT. Das GDA-Wohnstift befindet sich direkt neben dem Mousonturm. Doch die Welt des Altenwohnheims und die des Theaters berühren sich nicht. Obwohl sie in unmittelbarer Nachbarschaft liegen, wissen sie ebenso wenig voneinander wie die Jugend vom Alter.
Die drei jungen Regisseure Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi bringen in ihrem spannenden und schönen Projekt „Kreuzworträtsel Boxenstopp“ die Welten zusammen.
Mit zwei Bewohnerinnen des Stifts und zwei Schauspielerinnen entwickelten sie für die Plattform für junge Theaterregie „plateaux“ ein Projekt, das den Rennsport zum Thema hat. Haug und Wetzel haben früher mit ihrer Gruppe „Ungunstraum“ gearbeitet, Stefan Kaegi mit „Hygiene heute“. Was die drei Regisseure verbindet ist das Eingreifen ihres Theaters in die Wirklichkeit, sei es in Form von Investigationen vor Ort, sei es, indem es nach intensiven Recherchen spezifische Lebenswelten und deren Vertreter auf die Bühne holt.
Auch „Kreuzworträtsel Boxenstopp“ lebt vom komplexen Umspielen von Fiktion und Wirklichkeit, in deren Mitte es eine Grauzone gibt, wo beide nicht voneinander zu unterscheiden sind. Dazu haben Haug, Wetzel und Kaegi die Spielhaltungen der vier Damen fein abgestuft. Während die Schauspielerin Martha Marbo in der Rahmenerzählung vom Rennleiter Luxemburger, der die vier alten Hasen noch einmal auf die Piste locken will, den eindeutig fiktionalen Teil übernimmt, verliest Ulrike Falke, Bewohnerin des Wohnstifts, eine Art Tagebuch, in dem sich Probenerfahrungen und Details des Rennsport mit Alltagsbeobachtungen vermischen. Christiane Zerda ist für eine Bewohnerin eingesprungen. Im gebrochenen Gestus der Schauspielerin erzählt sie von ihrem Hörgerät und seinen Vorzügen. Wera Düring, eine weitere Bewohnerin des Wohnstifts, tritt zur Rampe und stellt Fragen, wenn sie nicht gerade auf einem Lift auf- und ab gefahren wird oder mit einer Schleuder kleine Kügelchen durchs Theater schießt.
„Kreuzworträtsel Boxenstopp“ war nicht das einzige Projekt, das die „plateaux“-Jury Heiner Goebbels, Marie Zimmermann und Jan Zoet ausgewählt hatte. Zuvor hatte der Brite Martin Burton in einem völlig abgedunkelten Raum vor unseren Augen ein Bild entstehen lassen. Eine Flasche und ein präparierter Tisch wurden mit fluoreszierender Flüssigkeit gefüllt, so dass die beiden Gegenstände langsam aus der Dunkelheit auftauchten. „10 Minute Photograph“ ist ein Spiel mit der Wahrnehmung, die überall Veränderungen sieht wo gar keine sind. Der Frankfurter Jan Mech zeigte anschließend auf der Probebühne mit „Gubbio“ nach Luigi Pirandellos „Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio“. Doch was den Regisseur an dem Text interessiert hat, wir szenisch nicht sinnfällig. Um einen Beobachter geht es, der selber zum Beobachteten wird, um einen Menschen, der mit der Technik, der Kamera verschmilzt. In formalisierten Gesten bewegt sich der Schauspieler Samuel Zach über den gepflasterten Bühnenboden, ohne daß sein Text und das, was er tut, jemals konkret würde.
Der besondere Reiz von „Kreuzworträtsel Boxenstopp“ besteht im Kontrast zwischen dem Thema und seiner szenischen Umsetzung. Rennsport ist männlich, jung und schnell. Die Darstellerinnen sind weiblich, als und langsam. „Was erzählt eine alte Stimme, das eine junge nicht erzählt?“ fragt Frau Falke einmal und bringt damit die Diskrepanz auf den Punkt, die diese Produktion im Innern antreibt. So wird das Stück über die vier alten Damen, die noch einmal ins Rennen geschickt einsteigen auch zur Metapher auf die Rennbahn des Lebens. Fast am Ziel, behaupten sich die vier mit Schlagfertigkeit und Witz in einer Wirklichkeit, die nicht die ihre ist. Gerade dadurch aber geben sie dem Theater , das sich heute oft mit der wohlfeilen Reproduktion allzu vertrauter Wirklichkeiten beschäftigt, seine verlorene Würde und Wahrhaftigkeit zurück
GERALD SIEGMUND