Von Barbara Burkhard
08.06.2005 / Theater heute
Auf der Suche nach dem Wallenstein-Moment: CDU-Politiker Dr. Sven Joachim Otto, Polizeidirektor und Weimarer Stadtrat Ralf Kirsten und Astrologin Esther Potter in Rimini Protokolls Schiller-Adaption. (Foto: Karola Prutek)
In Mannheim und Weimar wenden Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll Schiller auf die Gegenwart an – eine dokumentarische Inszenierung
Dr. Sven Joachim Otto ist trotz seiner jungen Jahre ein erfahrener Schauspieler. 1999, mit gerade 29 Jahren, spielte er auf einer mittleren Provinzbühne schon eine Protagonistenrolle: Er ließ sich als CDU-Kandidat für das Oberbürgermeisteramt aufstellen, unterlag, blieb aber dem Polittheater treu. Trotz eines zweiten, demütigenderen Absturzes: Als Otto 2004 zum Kämmerer gewählt werden sollte, versagten ihm mindestens fünf Kollegen seiner eigenen Fraktion in geheimer Abstimmung die Gefolgschaft. Aufstieg und Fall eines Politikers – wenn man Heide Simonis nichts zur Hand hat, ist Richter Dr. Otto mehr als zweite Wahl.
Dass ein reduziertes Rimini Protokoll (Stefan Kaegi stellte zeitgleich in Basel eine Miniaturmodellschweiz auf die Bühne) mit ihrer Auftragsproduktion für Mannheim und Weimar zum Schiller-Jahr, „Wallenstein – eine dokumentarische Inszenierung“, einen veritablen Hit landete, hat nicht zuletzt mit solch gewieftem Casting zu tun. Erstmalig hatten sich Helgard Haug und Daniel Wetzel kein Thema (wie in „Deadline“ die Sterbeindustrie, in „Sabenation“ die Abwicklung der Sabena), sondern einen klassischen Text vorgenommen, aus dem sie Figuren und Konflikte herauspräparierten, deren fortdauernde Wirksamkeit sie an realen heutigen Menschen aus Mannheim und Weimar und deren Biografien überprüfen wollten. Für Wallenstein und das Thema Verrat fanden sie auf Empfehlung des Mannheimer Schauspieldirektors Jens-Daniel Herzog eben jenen Dr. Sven Joachim Otto, einen großen, noch jungen Mann, dessen Bauch alleine schon einiges erzählt über den erschreckenden Bewegungsmangel, den das Politikmachen in Hinterzimmern mit sich bringt.
Biografischer Flickenteppich
Für Max Piccolominis Konflikt zwischen Liebe und Loyalität steht Ralf Kirsten, ein gelassener Glatzkopf, dem als Kriminalbeamter in der DDR ein Beziehung zu einer der geplanten Republikflucht verdächtigten Frau zum Verhängnis wurde. Kirsten entschied sich für die Frau und wurde aus der Kriminalpolizei entlassen, dann kam die Wende – heute ist er Polizeichef von Weimar (und geschieden). Die kuppelnde Gräfin Terzky wird ins Heute fortgeschrieben in Gestalt Rita Mischereits, Inhaberin einer Seitensprungagentur, brandrotes Haar, knallenges Schwarz an am spacken Körper, deren Handy auch während der Vorstellung auf Empfang bleibt. Prompt ruft ein Jens an, dem sie nüchtern Zeit, Ort und Preis (30 Adressen für 130 Euro) weitergibt; bei verheirateten Seitensprungkandidatinnen stellt Frau Mischereit den Kontakt selbst her, Diskretion ist oberstes Geschäftsprinzip.
Wallensteins Pappenheimer, die einfachen Soldaten, erscheinen, wie es sich gehört, in mehrfacher Verkörperung: Robert Helfert, ein kleiner alter Herr und Mannheimer Edelstatist, verteidigte seine Heimatstadt als Jugendlicher bei der Luftwaffe; Hagen Reich scheiterte als Zeitsoldat an „Fehler vier: alle tot“ und ist heute arbeitslos. Dave Blalock war in Vietnam und erzählt vom einzig entscheidenden Erfolgskriterium im Dschungelkrieg, dem „Bod-Count“ – egal, ob Frauen, Kinder, Zivilisten. Sein verhasster Kommandant starb bei einem Attentat der eigenen Soldaten, wie über 1000 weitere amerikanische Offiziere in Vietnam). Heute ist Dave Blalock, ein verwegener Typ mit Stirnband und Haudegen-Charme, Antrikriegsaktivist. Wie Darnell Summers, der als Musiker mit grauen Rasta-Locken die Amis auf Antikriegstrab bringt.
Die Riminis verschränken diese Lebensgeschichten – in Mannheim im Probenzentrum NEckarau, in Weimar in der Nebenspielstätte E-Werk – auf einer Drehbühne mit Klapptüren zu einem biografischen Flickenteppich, auf dem sich in holpernden oder versierten, selbstironischen oder leidenschaftlichen Erzählungen die „Wallenstein“-Motive von Loyalität und Gehorsam, Widerstand und Untergang abzeichnen. In einer Dramaturgie, die ganz klassisch von einer breiten Exposition ausgeht, in der Nebenfiguren Atmosphäre und Thema setzen. Der Elektromeister Friedemann Gaßner etwa, der in einem stockenden, verlegenen Monolog herzerwärmend zu Schiller führt: Seit 20 Jahren kuriert er die Wunde, die ihm eine gescheiterte Liebe schlug, mit Schillers Versen. Wolfgang Brendel, der im Weimarer Hotel «Elephant» die Mächtigen dieser und der verflossenen DDR-Welt bekellnerte. Und Esther Potter, geprüfte Astrologin, die statt Schiller-Sterndeuter Seni die untergründigen Parallelen der Walleinstein- und Otto-Horoskope mit gebotener Umständlichkeit erläutert. Auf der kreisenden Bühne, in der Stellwände die Spielräume immer weiter verengen, bis Dr. Otto den schweren Körper nur noch ins enge Eck pressen kann, spitzt sich das Tableau sukzessive zu auf die zentrale Verratsgeschichte: Wallensteins politischer Tod, Ottos Fall.
Kleiner Mann in kleinen Zeiten
Wir erfahren Erhellendes über Wahlkampf heute, die Nützlichkeit von Grillparties im Wählergarten, die entscheidende Frage, was man zum öffentlichen Lieblingsgericht erklärt (Spagetti mit Tomatensauce statt Bolognese, auch Vegetarier sind Wähler!), über die Manipulation von Fotos für Wahlplakate, die Notwendigkeit von Kind und Haustier für die Wahlkampfbroschüre (wird im Bedarfsfall ausgeliehen), kurz, die so komisch dilettantischen wie entrüstend zynischen Tricksereien des Politgeschäfts, die Otto ohne falsche Scham offen legt als schiere Selbstverständlichkeit: So machen’s doch alle. Doch irgendwann ist Schluss mit lustig. Wir lernen die Subtil- und Brutalitäten von Polit-Mobbing kennen; Dr. Otto gesteht, dass er darob in Tränen ausgebrochen sei. Beklemmend die Szene vom letzten Countdown, das endlose Warten auf das Wahlergebnis bei der Kämmerer-Wahl 2004, die im Fiasko endete. Die Originalfotos von damals zeigen einen Politiker, der dauergrinsend sehr weit entfernt scheint von der Souveränität des Bühnen-Ottos.
Otto spielt Wallenstein als Otto – als kommunalen Strippenzieher im Absturz. Wallenstein en minature: kleiner Mann in kleinen Zeiten. Im Gegensatz zu Wallenstein erfreut sich Dr. Sven Joachim Otto dafür nach wie vor bester Gesundheit (und sitzt noch immer im Gemeinderat). Und ist hundertprozentig echt.
Oder? Erzählt Otto uns seine Geschichte so angenehm distanziert und atemberaubend offen, weil er uns Wallenstein näher bringen will? Oder macht er schon wieder Wahlkampf? («Bild» kam so auch mal ins Theater.) Ist das ein öffentlicher Selbsttherapieversuch? Oder münzt er die Niederlage zum Triumph um, ein posthumer Racheakt? Sucht er die Ressource Aufmerksamkeit jetzt nur auf anderer Bühne? Hat er sein Herz fürs Sprechtheater entdeckt, gar fürs nicht-textreue, derselbe Otto, der vor einiger Zeit in Mannheim noch lässig für die Schließung der Schauspielsparte votierte – schließlich säßen seine Wähler in der Oper? Darüber kann man mindestens so lange nachdenken wie über die ewige Aktualität klassischer Texte – und wird es nicht ergründen. Das ist der Reiz.
Am Ende stellt Dr. Otto drei Fragen: Hätten Sie mich gewählt? Würden Sie mich beim nächsten Mal wählen? Haben Sie mit mir gefühlt gerade eben? Bei Frage 1 und 2 hebt sich kaum eine Hand, bei Frage 3: fast alle. Haug/Wetzels Klassikerverfremdung ist schon seine sehr vertrackte Art von Einfühlungstheater.