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Ich spiele Son

Auf dem Urlaubsflug nach Hanoi mit Interflug, 1989 © privat

Auf der Bühne, Dresden 2009
© Matthias Horn

Nguyen Hung Son – Rufname sprich »Son«

genau auf der Grenze von Nord- und Südvietnam geboren – offizieller Geburtstag: 12. 7. 1961 (aber eigentlich 1960). Den Krieg hat er als kleines Kind in einer der meistbombardierten Gegenden Mittelvietnams überlebt. 1980 kam er als Student für Maschinenbau in die DDR. Sein Spitzname ist Sony – nach Sony’s American Nail Studio (am Albertplatz).

Wollte eigentlich Fernfahrer in Vietnam auf der Nord-Süd-Achse werden, ging dann aber 1979 zur Berufsausbildung in die DDR. Erst im VEB Maxhütte in Unterwellenborn, dann ab 1983 im VEB Edelstahlwerk Freital. Dort ab 1987 auch als Sprachmittler eingesetzt. Beruflich seit 1990: Näher, Obst und- Gemüse-Handel, Restaurant, Nagelstudio – »Alles legal!« Mutter, Schwester und Onkel Leben in Vietnam. Ein Cousin lebt in den USA. Buddhist. In seinem Nagelstudio steht auf dem Boden ein kleiner Tempel (beten für das Glück des Grundstücks). Würde gerne einmal in die USA fliegen und sich in anderen American Nail Studios informieren: Neue Techniken für Nägel, Design der Einrichtung.

In Sony's Nagelstudio "Amercian Nails" am Albertplatz, Dresden © privat

Auf der Bühne, Dresden 2009
© Matthias Horn

Nguyen Hung Son über seine Kindheit im Krieg

»Meine Eltern kommen aus Quang Tri, auf der südvietnamesischen Seite, direkt an der Grenze. Auch dort waren an beiden Seiten des Flusses, der später die Grenze wurde, hohe Türme aufgebaut worden. Von oben wurde per Megafon hinunter gerufen. Es war klar, dass man nicht lange Zeit zum Überlegen hatte. Und eigentlich war der Fall bei meiner Mutter auch klar, denn mein Vater war Vietcong und so ist sie mit einer kleineren Gruppe in den Norden gegangen.

Hinter der Grenze wussten sie gar nicht wohin und ließen sich im Dorf Vinh Linh nieder. Das ist direkt hinter der Grenze. Dort arbeitete sie wieder im Krankenhaus. Der Krieg zwischen Süd und Nord wurde immer schlimmer. Meine Mutter war mit mir schwanger und in der Nacht vom 12.7.1960 bekam sie die Wehen, unterwegs in der Nähe von der Brücke, während einer Bombardierung. Ich wurde mitten hinein in einen Krieg geboren.

Mit einem Jahr kam mein Vater auf Urlaub. Er hat mir einen Marineanzug mitgebracht und an der Hand laufen beigebracht. Nach 20 Tagen war er wieder weg. Meine Mutter war wieder schwanger. Meine Schwester hat ihn aber nicht erlebt. Sein letzter Brief kam 1963. Dem Jahr, in dem der amerikanische Verteidigungshaushalt von acht Milliarden auf insgesamt 54 Milliarden aufgestockt wurde. Und seitdem haben wir meinen Vater nie wieder gehört oder gesehen. 

Als ich drei oder vier Jahre alt war, habe ich jeden Tag Bombardierungen gesehen. Mehrere hundert Mal. Mit sechs Jahren wurde ich in die K8 aufgenommen. Das ist ein geheimes Programm von Ho Chi Minh. Also Onkel Ho- für die südvietnamesischen Kinder, die in den Norden gekommen waren und deren Väter im Krieg waren. In der Nacht vom Abschied sagte meine Mutter zu mir: ›Du darfst nach Hanoi fahren und dort triffst du Onkel Ho. Und  du bekommst Bonbons.‹ Ich hab mir vorgestellt, wie Onkel Ho eine große Treppe herunter kommt. Wir rennen ihm entgegen. Wir gehen zusammen in den Garten. Ich darf sogar seinen Bart anfassen und er verteilt goldene Bonbons an uns. Allen Kindern von K8 wurde das so erzählt. Es machte den Abschied wirklich leichter.

Zweieinhalb Tage und Nächte sind wir mit dem Armee-LKW nach Norden gefahren. 

Am Ende sind wir in Tho Xuan angekommen. Das ist 230 km von Hanoi entfernt, und von Onkel Ho und seinen Bonbons auch. In Tho Xuan wurden alle Kinder in verschiedene Familien aufgeteilt. Wir bekamen vom Staat alles: Unsere K8-Uniform, Essen, alles von A bis Z. Am Anfang bekam ich die Sachen und danach hab ich nichts mehr gesehen.

Nach zwei Jahren sah ich eine Frau ins Dorf kommen und sagte zu einem meiner Freunde: ›Schau mal, die Frau sieht aus wie meine Mutter.‹ Als sie näher kam stellte sich heraus, dass sie es tatsächlich war. Sie war losgelaufen um mich zu suchen und hatte von Dorf zu Dorf nach den K8-Kindern gefragt- Am Ende hat sie mich in Xuan Lai gefunden. Sie war geschockt, als sie mich sah- weil ich so dreckig und dünn war. Mein Hemd war zerrissen und ohne Knöpfe.

Als der Krieg vorbei war, sagte meine Mutter: ›Jetzt können wir endlich in die Heimat gehen und den Vater suchen. Wir gehen in den Süden und suchen euren Vater.« 

Familienfoto, 2005 © privat

Auf der Bühne, Dresden 2009
© Matthias Horn

Nguyen Hung Son über seine Geschäfte in der DDR

»Es gab damals wenig Jeanshosen im Verkauf, und wenn, keine Markenhosen, nur DDR-Marken wie Wiesent und Boxer. Aber die DDR-Marken wollte keiner. Die Leute erzählten sich, dass wir Hosen nähen und dann fragen sie nach uns. Ein Kollege kam zu mir und sagt: ›Hey Sony, kannst du Hosen nähen?‹. Und ich sagte dann ›Natürlich. Für dich? Dann komm heute nach der Schicht ins zu mir nach Hause ins Wohnheim‹. Nach der Schicht kam er mit mir ins Wohnheim. Ich wohnte mit einem Kumpel zusammen. Im Zimmer standen zwei Betten, zwei Schränke, zwei Stühle und ein Tisch. Auf dem Tisch zwei Nähmaschinen. Mein Kumpel hat auch genäht.

Ich fragte den Kollegen, welche Marke er wollte. Wranger. Am nächsten Morgen brachte ich sie ihm zur Arbeit mit. Ihm passte die Hose wunderbar und er sagte: ›Ich empfehle dich weiter.‹  

Die Stoffe haben wir ganz normal im Laden gekauft. Weil damals so viele Leute Jeanshosen nähten, mussten wir aufpassen, wann die Lieferung kam. Und dann haben wir ganz schnell gekauft. Wir nahmen gleich ungefähr 50 Meter. Das reichte für 45 Hosen. 45 Hosen schafften wir in drei Monaten, also im Monat ungefähr 15 Hosen. An Weihnachten standen die Deutschen Schlange vor dem Wohnheim. 

Ich brauchte zwei Stunden für eine Hose. So lange wie ich jetzt als Nagelpfleger für eine Neumodellage brauche. Es gab verschiedene Marken. Die Leute wollten immer Levis und Wrangler. Außerdem gab es Hits, Mustang und Rifle. Die Lederschilder mit den Markennamen und die Nieten haben wir von den Polen bekommen. Die sind mit einem großen Koffer ins Wohnheim gekommen und haben dort verkauft. Mein Kumpel und ich haben gleich 100 Sets gekauft. Ein Set ist ein Lederschild, eine Stoffschild und sechs Nieten.

Für die Jeans haben wir 165 DDR-Mark genommen, egal welche Marke, egal ob dick, dünn, groß, klein. Nach fünf Hosen, die ich genäht habe, reichte das Geld um für mich eine originale Levis- oder Wranglerjeans im Intershop zu kaufen.

Meine letzte Hose habe ich im Sommer 1989 genäht. Wir haben dann gemerkt, dass die Leute weniger nach Hose fragen. Und außerdem haben wir in den Nachrichten gesehen, dass sich irgendwas verändert. Plötzlich war die Grenze zwischen Österreich und Ungarn offen. Und Gorbatschow hat sich mit dem amerikanischen Präsident getroffen. Nach der Schicht haben wir uns als Spaß gesagt: ›Jetzt hat Gorbi die DDR an Amerika verkauft.‹

Die Nähmaschine ging mit meiner letzten Kiste nach Vietnam. Das war im September 1989. Dann flog ich hinterher auch nach Hause, auf Urlaub. Ich habe selbst gekündigt beim Stahlwerk und mit einem Kumpel zusammen einem Obst- und Gemüsestand aufgemacht. Alle wollten Südfrüchte. Dann haben wir ein Restaurant aufgemacht und seit drei Jahren habe ich ein Nagelstudio – das ist der neuste Trend.«

Aus dem Textbuch von Vung Bien Gioi

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