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Ich spiele Thanh

Thanh beim ersten Dresden-Besuch mit ihrer Literaturdozentin auf der Brühlschen Terrasse, 1981 © privat

Auf der Bühne, Dresden 2009 © Matthias Horn

Phung Hang Thanh - Rufname sprich "Teng"

wurde am 28.8.1962 in Hanoi (Nordvietnam) geboren. Den Krieg hat sie in den Bunkerlöchern unter der Erde ihres Heimatdorfes erlebt. Ihre Eltern waren Freiheitskämpfer zuerst im Krieg gegen die Franzosen, dann gegen die Amerikaner. Ihr Vater als Waffenproduzent, dann Hochschullehrer, ihre Mutter als Krankenschwester, dann Ärztin. Nach dem Abitur 1980 zum Germanistik-Studium in die DDR (Leipzig). Aus Liebe zur Freiheit wollte sie nicht nach Vietnam zurückkehren (VIDEO: "Mein Studium"). Gescheiterte Versuche aus der DDR auszureisen: Fünf. Großfamilie auf der ganzen Welt verstreut: Deutschland, USA, Holland, Finnland, Canada, Australien u. v. m. Maxime: »Der Weg zur Wahrheit ist eine große Landkarte, die in Stücken auf viele verschiedene Hände verteilt ist." Nach 1990 freiberufliche Dolmetscherin und Übersetzerin. Vorsitzende des Frauenvereins der Vietnamesinnen in Dresden. Weiteste Reise: Neuseeland.

 

Mit dem Solidaritäts-Ensemble beim vietnamesischen Nationalfeiertag in Leipzig 1983 (Thanh 2. vorn rechts) © privat

Auf der Bühne, Dresden 2009 © Matthias Horn

Mein Land

»Mein Land sah mich als "das gute Kind von Onkel Ho" - als begabte Studentin, die ein Stipendium für ihr Germanistik-Studium in Leipzig bekommen sollte.

Mein Land sagte, du gehst in die Fremde mit einer läutenden Glocke voraus.

Mein Land sah wie ich emsig studierte und im "internationalen Studentenensemble Solidarität" aufging. (zeigt Foto) Hier zum Beispiel beim Tag der Solidarität, wo wir vietnamesische Tänze aufführte hinter mir ein Bild von Ho Chi Minh und die Losung an der Wand hinter uns Tänzerinnen: »Es lebe die Solidarität und die Zusammenarbeit zwischen dem vietnamesischen Volk und dem Volk der deutsche demokratische Republik.« 

Mein Land hat mich bei Ernteeinsätzen begleitet. In den Sommerlagern haben wir politische Schulungen durchgeführt, bei denen wir Kritik und Selbstkritik üben lernten.

Gegen den Willen meines Landes habe ich einen vietnamesischen Studenten geheiratet – eine Hochzeit war nicht im Programm vorgesehen. Die Hochzeitsfeier glich einer Demonstration mit 200 befreundeten Studenten.

Dann habe ich versucht mich ein Stück weit der Kontrolle meines Landes zu entziehen und bin heimlich mit einer polnischen Freundin in eine Wohnung außerhalb des Wohnheims gezogen.

Mein Land hat mir dennoch zur Belohnung für mein bestandenes Studium eine Reise in das sozialistische Bruderland UDSSR geschenkt. Das war im Sommer 1986, kurz nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl.

Mein Land sah mich völlig ernüchtert von dieser Reise zurückkehren, sah mich am großen Vorbild zweifeln.

Mein Land formulierte eine Absage für mein Promotionsvorhaben: ›Die Sozialistische Republik Vietnam hat kein Interesse die Germanistin weiter auszubilden und ruft sie zurück.‹

Mein Land legte ein Rückflugdatum fest. In dieser Zeit versuchte ich zu fliehen.  

Plan 1: Ich reise nach Ostberlin. Ein Freund zeigt mir eine Stelle in der Mauer, an der man eine Platte wegschiebt und einfach rüber rennt.

Ich fragte ihn ob das zufällig die Stelle mit der Selbstschussanlage und den Kettenhunden sei. Das wusste er auch nicht so genau.

Plan 2: Ich fahre nach Großkorbetha und warte dort auf einem Feld auf den Moment, wenn ein westdeutscher Zug bei rotem Signal halten muss. Wenn die DDR- Grenzbeamten den Zug verlassen und die der BRD den Zug betreten haben, renne ich zum Zug, stelle mich den westdeutschen Beamten und bitte um Asyl.

Plan 3: Ich nehme einen Zug nach Belgrad und von dort führt mich ein Schleuser über die Berge nach Österreich und von Österreich in die BRD.

 Dieser Plan erschien mir am realistischsten und so habe ich mich mit einer befreundeten Kubanerin – die auch zurück in ihr Heimatland sollte und nicht wollte – auf den Weg gemacht.

Ein Arzt schrieb mir ein Attest, dass ich nicht flugtauglich war. Das Flugzeug ging ohne mich zurück nach Vietnam. Wir haben uns in den Zug gesetzt. Drei Mal sind wir losgefahren und drei Mal wieder aus dem Zug gefischt worden. Meine Freundin gab auf und ging nach Kuba. Ich bin von Leipzig nach Dresden gegangen.

Ich bekam einen Tipp, dass mein Land für mich schon den nächsten Rückflugtermin festgelegt hatte. Eine Freundin sagte: ›Jetzt musst du dahingehen, wo die Gefahr am größten ist.‹ Sie hatte eine Wohnung neben der vietnamesischen Botschaft in Ostberlin und quartierte mich dort ein. Sie versorgte mich mit Essen und Trinken, schaffte Ballenweise Stoff heran und eine Nähmaschine, und hatte nur eine einzige Empfehlung: ›Du darfst die Wohnung nicht verlassen.‹ Ich habe 55 Sommerkleider genäht, die sie alle auf einem Markt in Berlin verkaufte, und so die Zeit bis zum Verstreichen des Flugtermins abgesessen.

 Mein Land konnte mich für den angesetzten Flugtermin nicht finden und so flog die Maschine ohne mich zurück nach Hanoi - voll besetzt mit abgeschobenen Vietnamesen, die Digitaluhren aus der CSSR ins Land geschmuggelt hatten, wie ich später erfuhr.

Und so habe ich mich rübergerettet bis 1987, als mein Land einen Vertrag mit anderen sozialistischen Bruderländern abgeschlossen hatte und den ersten großen Schwung vietnamesischer Werktätiger losschickte und in Dresden ganz dringend Dolmetscher gesucht wurden.«

Auszug aus dem Textbuch von Vung bien Gioi

Maueröffnung

»Als am 9. November die Grenzen geöffnet wurden, war ich in Dresden auf einer Kundgebung und bin erst das darauf folgende Wochenende nach Westberlin gefahren. Ich habe mir dort einen Stadtplan gekauft und von einer Telefonzelle aus alle Freunde angerufen und sie besucht. Dann bin ich aber wieder zurück nach Dresden gefahren – obwohl mich Freunde für verrückt erklärten. Als die erste große Ausreisewelle in den Westen losging, habe ich auch mit dem Gedanken gespielt, aber irgendwie hatte mich die Lust verlassen – ich wollte mich nicht in das Chaos begeben und habe immer gesagt: es muss nicht heute sein. Und so bin ich geblieben.«

Auszug aus dem Textbuch von Vung bien Gioi

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